Sorry - wirklich langer Aufsatz
*******tive:
Die Beschreibung "Lebensform zum Zwecke der Vereinzelung" läßt sich historisch tatsächlich nicht begründen.
Vielen Dank für die Anerkennung dessen.
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Vielleicht ist es wirklich nur der Gegenwart westlicher Industrienationen geschuldet, daß dieses Phänomen sich derzeit Bahn bricht.
Das ist in der Tat gar nicht so weit hergeholt, trotzdem noch etwas zu kurz gesprungen. Aber darauf gehe ich gleich ein.
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Dann würden wir dennoch soweit gehen zu sagen, daß Monogamie historisch zur günstigeren Kontrolle der Einzelwesen erwachsen ist, gerade weil sie ursprünglich in kleineren Gemeinschaften zusammenlebten. Noch in der Karolingerzeit ca. 600-900 n.Chr. gab es keine formellen Ehen und Sippen lebten unter einem Dach zusammen - und teilten dort buchstäblich Tisch und Bett. Was auch für den angehenden Klerus galt - und eben dies war der Kirche irgendwann ein Dorn im Auge, so daß Regulierung einsetzte.
Erst einmal müssen wir uns ansehen was diese Monogamie denn ist, von der ihr redet. Denn Monogamie ist ein eigentlich extrem junges Phänomen, so wie wir sie kennen. Die Monogamie existierte für den Mann eigentlich bis weit in das 19. Jahrhundert nicht. Die Einführung der Monogamie in Nord- und Mitteleuropa ist in der Tat mit den Karolingern verbunden. Aber auch hier ist die Verbreitung des Christentums nicht die Ursache, sondern nur ein weiteres Symptom. Die Änderung der Gesellschaftsform ist deutlich relevanter. Der Feudalismus ist hier deutlich stärker treibende Kraft. Da liegt ihr auch nicht mehr so weit daneben, dass die Kirche Ende des 6. Jahrhunderts das Zölibat einführte, um eine Vererbung von Kirchengütern an Nachkommen der Priester zu verhindern. Zwar war bereits in einigen Konzilen des 4. und 5. Jahrhunders deutliche Entwicklungen zum Partiarchat und zum Zölibat zu sehen, die Monogamie war aber noch kein Thema. Es gab einige Päpste mit mehreren Frauen und auch einige weibliche Prister. Erst im 11. Jarhundert setzt sich die theologische Haltung des Zölibats in der Kirche durch. Gelebt wird es noch weitere 500 Jahre nicht. Von Monogamie kann auch hier aus kirchlicher Sicht keine Rede sein. Es gibt sogar noch immer weibliche Priester.
In den Fürstenhäusern (Karolinger, Staufer, Sachsen, ...) setzt sich die Monogamie der Frau durch. Ebenfalls einzig aus dem Machtanspruch des legitimen Erben. Eine Monogamie des Mannes gibt es zu der Zeit nicht. Polygynie ist sogar weit verbreitet unter den Fürsten.
Erst mit Martin Luther setzt sich hier eine deutlich moralischere Interpretation durch. Wirklich Oberhand gewinnt diese Haltung aber erst nach dem 30-jährigen Krieg. Praktisch als Antwort auf die Verrohung von Sitten und Moral. Die Monogamie ist somit auch in der Großfamilie (die noch einige Zeit das Zentrum bleibt) mehr eine Antwort auf die gesellschaftlichen Umstände und Erfahrungen.
Die nächste große Umwälzung beginnt mit dem Unabhängigkeitskrieg in Amerika und der französischen Revolution. Mit der Aufklärung. Hier wird auch die Saat des von euch kritisierten Individualismus gelegt. Aber auch diese sind nur eine Folge einer anderen weit mächtigeren gesellschaftlichen Veränderung. Die Industrielle Revolution. Die Erfindung der Dampfmaschine. Diese radikale Veränderung ist die Geburtsstunde der Idee der Monogamie, wie wir sie heute kennen.
Wie kam es dazu? Bisher war die Großfamilie die Norm gewesen. Mehrgenerationenhaushalte. Der Großteil der Menschen arbeitete in der Landwirtschaft. Handel, Warenproduktion waren keine spezialisieren Wirtschaftszweige. Dies ändert sich nun massiv. Es sind nicht mehr die Familien, welche in den Wintermonaten Stoffe weben, sondern diese werden nun in erheblichem Umfang in Arbeitsteilung hergestellt. Diese Arbeitsteilung ist modern. Diese Arbeitsteilung führt gleichzeitig dazu, dass der Mensch als Werkzeug gesehen wird. Er war auch zuvor nicht viel mehr wert (als Angehöriger des 3. Standes). Aber der Mensch wird immer weniger sich selbst überlassen. Sondern er wird optimiert und spezialisiert.
Diese Idee zieht auch in die Familie ein. Sie wird sogar zur Notwenigkeit. Die Menschen verlassen die Dörfer und ziehen zu den Fabriken in die Städte. Dabei gehen sie alleine. Die neuen Familien, die begründet werden, sind Kleinfamilien. Bestehend aus einem Ehepaar und Kindern. Der Mann hat hier die Rolle des Ernährers. Die Frau, die Rolle der Kindererziehung. Natürlich ist das eine überzeichnende Vereinfachung, da besonders die Neuankömmlinge sich diese Arbeitsteilung nicht leisten konnten. Aber das zu der Zeit entstehende Bürgertum kann es sich leisten. Und diese ersten Selfmade-Geschäftsmänner sind das Vorbild. Gleichzeitig verspricht diese neue Ehe auch eine Befreiung von bestehenden Zwängen. Die Liebesheirat. Während zuvor die arrangierte Ehe die Norm war, bot sich hier jetzt die Möglichkeit aus der Umklammerung der Großfamilie auszubrechen und selber sein Glück auch in Dingen der Partnerwahl selbst in die Hand zu nehmen.
Begleitet wurde dies auch durch die Kultur. Die gesamte Romantik ist ein wunderschönes Beispiel für das Lebensgefühl der damaligen Zeit. Das ging es um Freiheit und gleichzeitig um diesen tiefen Schmerz aus dem Verlust an Zugehörigkeit. Um Einsamkeit und Vereinzelung aber einem unglaublich kraftvollen Drang zu Aufbruch und Erneuerung.
Diese neuen Ideen waren aber von der Realität noch immer weit entfernt. Die Ehe war weiter eine wirtschaftliche Einheit. Besonders im Bürgertum ging es noch immer darum eine gute Partie zu machen. Gesellschaftlicher Status und Aufstieg ersetzten die Hektar Ackerland. Die Folgen dieser Veränderung wurden auch nur allzu bald spürbar. Den Menschen fehlte es an Halt und Zusammengehörigkeitsgefühl. In diese Lücke sprang im 19. Jahrhunder der Nationalismus. Er schuf ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Eine Heimat für die verlorenen Seelen. Das klingt jetzt ziemlich pathetisch, aber nur so lässt es sich erklären, warum 1914 die deutschen Soldaten singend in den ersten Weltkrieg zogen.
Wie sah es zu der Zeit um die Monogamie aus? Kurz vor dem Schrecken des 20. Jahrhunderts. Aus heutiger Sicht recht interessant. Mit der Frauenbewegung, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg begann, wurde die Monogamie umgedeutet. Zum ersten Mal wurde die Monogamie auch vom Mann eingefordert. Wen das interessiert, dem seinen die Briefwechsel der Ada Lovelace ans Herz gelegt, die dort in einigen Briefwechseln sich zu dem Thema positioniert.
Dann passierte was kommen musste. Der erste und zweite Weltkrieg. Beide sind logische Folge des Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Die Gesellschaft blieb dabei aber weder bei uns in Europa, noch in Amerika stehen. Hier sei auf die Frauen in den Waffenfabriken verwiesen oder auf die Trümmerfrauen. Hier sei auf die vielen gefallenen Soldaten verwiesen. Die Gesellschaft hatte sich verändert. In den 50er Jahren bildete sich dann die Monogamie heraus, die wir heute als romantische Ehe kennen. Mann und Frau sind beide in Liebe bis an das Ende ihres Lebens aneinander gebunden. Völlig egal wo in der westlichen Welt man hinsieht sind die 50er Jahre das Jahrzehnt der Monogamie. Es sollte ab da steil bergab gehen.
Die folgenden drei Jahrzehnte entkernten die romantische Ehe. Denn der Kern der romantischen Ehe ist mitnichten die Liebe. Es ist die realisierte Arbeitsteilung ersponnen im 18. Jahrhundert. KKK - Kinder, Küche, Kirche sind die Aufgaben der Frau. Der Mann ist für der finanziellen Status verantwortlich. Er darf entscheiden, ob die Frau einer Arbeit nachgehen darf. Sollte er es ihr gestatten, galt er als Verlierer, der seine Familie nicht ernährt bekommt. Unverheiratete Paare durften nicht zusammen leben. Eine Vergewaltigung in der Ehe gab es per se nicht. Bei Scheidungen wurde die Schuldfrage gestellt. Eheliche Pflichten waren ein juristischer Begriff. All das wurde in den folgenden Jahrzehnten abgeschafft. Abschließend mit dem "Kompromiss" des Paragrafen 218, der endgültig der Frau das Recht zugesteht über ihren eigenen Körper zu entscheiden.
Die Ehe der 50er Jahre funktioniert nicht mehr. Es gibnt keinen äußeren Zwang mehr. Die folge ist, dass jede zweite Ehe geschieden wird. Dass viele Ehen gar nicht mehr geschlossen werden.
Entschuldigt den Vortrag. Aber aus all dem wird deutlich, dass die Monogamie zwar immer kontrollierenden Charakter hatte. Sie aber immer eine Antwort auf andere Entwicklungen war und im Kern sogar den Glaube an Freiheit und Selbstbestimmung trägt. Auch wenn wir dies aus heutiger Sicht schwer nachvollziehen können.
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Vielleicht ist es wirklich nur der Gegenwart westlicher Industrienationen geschuldet, daß dieses Phänomen sich derzeit Bahn bricht.
Dies tut es also eigentlich seit 300 Jahren und ist die Folge der Erkenntnis, dass wir alle vor dem Gesetz gleich sein sollten, die gleichen Rechte haben sollten und selbstbestimmt leben können sollten. Sprich: es ist die Folge der Aufklärung.
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Da wir heute quasi im Zeitalter der "Supernormierung" angekommen sind, ist es soweit gekommen, daß als "normal" gilt, was die Mehrheit tut - und alle Anderen müssen sich stets am Rande der "Richtigkeit" als Abweichler rechtfertigen (wir diskutieren hier ja quasi im Joy in so einem Phänomen...).
Also Norm bedeutet schon immer, das auf was sich die Mehrheit verständigen kann. Das ist schlicht die Wortbedeutung. Abweichler mussten sich auch schon immer rechtfertigen. Auch das ist nichts neues. Ich meine sollte Jesus wirklich gelebt haben, dann ist er als Abweichler, als Gründer einer neuen Sekte hingerichtet worden.
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Da wir beide "Polyamorie" als Werkzeug zur (Klein)Gemeinschaftsbildung nutzen, kommt es uns Zweien hier vermutlich so vor, als ob "Polyamorie" ein Wende für die Kleinfamiliengesellschaft bedeuten könnte (Konjunktiv!).
Und das ist es ja auch. Beziehungsweise kann es genau so genutzt werden. Damit ist Polyamorie aber nicht die Revolution sondern das Pflaster. Genauso wie die Kleinfamilie im 18. und 19. Jahrhundert das Pflaster war.
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Und ob das in der "Polyamorie" besser gerät als in der "Monoamorie" - oder ob in der Polywelt nur mehr Spieler*innen am Tisch sich gegenseitig "verbessern" möchten bzw. als Frösche gegen die Wand werfen - das haben wir sogar im TO offen gelassen.
Nicht das Beziehungssystem wird uns helfen, richtig.
Vielleicht das Bewußtmachen und Durchbrechen eines Reflexes, "unseres Bruders Hüter zu sein".
Euer Eingangspost und auch die etwas verzerrte Darstellung in eurem letzten Post zeigen auch bei euch eine gehörige Portion Sendungsbewusstsein. Ich habe euch mehrfach gebeten euch diesem Widerspruch zu stellen, leider verweigert ihr euch diesem. Jeder hat das Recht Thesen aufzustellen. Wer sie aufstellt, ist aber auch gefordert diese zu begründen (nicht zu beweisen, das ist erst erforderlich, wenn er oder sie daraus von anderen Handlungen erwartet). Meinungen darf jeder haben. Aber Meinungen sind subjektiv. Thesen sind objektiv und nach außen gerichtet. Wer eine Meinung vertritt muss damit rechnen, dass widersprochen wird. Das ist keine Garstigkeit, sondern das Recht des anderen zu einer Meinung. Bei Thesen ist das ähnlich. Jeder darf eine These aufstellen und gegen die Thesen des anderen argumentieren. Argumente sind aber keine Gefühle. Argumente basieren auf Tatsachen und belegbaren Erkenntnissen.