Wenn Du nicht wärst... (lang!)
Wir beide hatten in letzter Zeit wiederholt Kontakt mit Menschen, die sich polyamore Beziehungen wünschten. In den Gesprächen wiesen diese irgendwann regelmäßig auf ihre Monopartner, die ihnen in dieser Hinsicht "aber das Leben schwer machen würden..."Dazu entstanden bei uns folgende Gedanken:
Franklin Veaux und Eve Rickert haben ihr Standardwerk über Polyamorie "More Than Two" genannt.
Genau genommen hätten sie den Buchtitel vielleicht besser "More Than One" genannt, da es in - ja, wir sagen es jetzt - in "echter Polyamorie" um die nichts weniger als die gemeinschaftliche Auflösung des mononormativen Narrativs geht, wo jedermensch die Standardbeziehungsrolltreppe akzeptiert, ohne die nichtsdestoweniger vorhandenen AGBs gelesen zu haben.
Leider scheint Monogamie für eine Gesellschaftsform extremer Vereinzelung der Menschen erschaffen worden zu sein - so daß wir alle darin ganz schöne Ego-Shooter geworden sind, die hauptsächlich das eigene Wohlergehen und Überleben in den Blick genommen haben.
Der "Aufbruch" in die Polyamorie ist ein regelrechter "Bruch" mit diesem "Ich schau' auf mich - Du schaust auf Dich".
Denn Mehrfachbeziehungen fordern von uns nach unseren Erfahrungen ein Umdenken im Sinne der christlichen Seefahrt: "Eine Hand für mich - die andere für das Schiff"; also übersetzt: "Einerseits für mich sorgen - aber genauso engagiert auf die Beziehung eingelassen".
Viele Monogame werden nun sagen, daß dies auch in der Monogamie so ist - aber das glauben wir (leider) nicht, weil Monogamie eben einen bewährten Standard-Deal anbietet, der allzuoft nicht hinterfragt wird, wenn wir ihn eingehen.
Ein garstiges Problem unserer Zweierkisten (überhaupt unserer gesamten Gesellschaft) ist unserer Meinung nach z.B., daß es darin viel zu einfach ist, bei Problemen immer ins "DU" zu zeigen - und genau diesen Reflex nehmen wir, die wir im "Aufbruch" sind, dann leider vielfach genau so unreflektiert mit in unsere Polybeziehungen.
Was das heißt? Nun, daß immer die/der Andere "schuld" ist:
• "Wenn DU nicht immer bespiegelt werden wolltest...
• Wenn DU nicht so egoistisch wärst....
• Wenn DU nur eigenständiger wärst...
• Wenn DU bloß weniger eifersüchtig wärst...
• Wenn DU endlich DEINE Selbstliebe finden könntest...
• Wenn DU mal an DIR arbeiten würdest...
• Wenn DU mal was daraus lernen würdest...
Ja, klar - dann würde das Paradies ausbrechen, Einhörner begännen zu tanzen und ewiger Beziehungsfrieden würde ausbrechen... Und WIR, also ICH: ICH hätte endlich meine Ruhe und meine Freiheit. Aber leider bist da ja noch DU... DU bist so unvollkommen...
Und so leben wir, ob monogam oder polyamor immer mit lädierten Fröschen zusammen, die wir immer wieder gegen die Wand werfen, weil endlich ein Prinz oder eine Prinzessin daraus werden soll - aber es sind eben nur dumme Frösche, die sich einfach nicht genug anstrengen.
Bei dieser Form von Egotripping sind wir doch aber - meistens unbewußt - immer nur stur auf unserer eigenen Autobahn unterwegs und schimpfen über die Hunderte von idiotischen Geisterfahrern, die uns entgegenkommen - und ignoriere vollständig die Möglichkeit, daß das Ganze ja vielleicht vor allem etwas mit MIR zu tun haben könnte.
Unserer Ansicht nach wird das so nix und wir bleiben mittelfristig immer in unseren Beziehungen (wieder) unglücklich, weil sich unsere Altlasten durch die Hintertür mit hineingeschlichen hat.
Dann leben wir oft mit Partner*innen zusammen, die wir wie ein Kind behandeln, wenn wir Polyamorie anpreisen wie einen Pullover: "Probier doch mal den Pullover... Also ICH finde den Pullover schön... Pullover sind jetzt totchique... Komm, zieh' ihn an, mir zu Liebe... Alle anderen wollen doch Pullover tragen..."
Das ist unwürdig, weil wir manipulativ unterwegs sind und versuchen, unsere Gegenüber um eine "informierte Wahl" zu bringen, um eine freie Willensentscheidung (HashtagNein heißtNein), denn letztenendes zeigt das Beispiel doch klar, daß WIR nicht in der Lage sind, eine Willensentscheidung unserer Mitmenschen zu akzeptieren, die Konsequenzen daraus zu ertragen und notfalls die harten Schritte zu gehen (!). Aber das ist auch verständlich: Oft haben wir sehr viel Angst um uns selbst - und wir sind es meist, die bequem sind und es uns in unserer Box eingerichtet haben...
Da sollen sich mal besser die Anderen bewegen....
Sehr häufig reden wir uns in solchen Momenten dann darauf heraus, daß wir "...ja nur die Anderen vor Schmerz schützen wollen".
Hand auf's Herz: Das ist nicht wirklich aufrichtig.
Wen wollen wir wirklich schützen? Doch uns selbst - vor unserem Schmerz, den wir aushalten müssten, vor unserer Scham, der wir gegenüber stehen, wenn die andere Person nicht so reagiert, wie wir uns das erhofft haben. Wieder ist es unsere EIGENE Angst, die uns (selbstverständlich) am meisten lähmt, wieder benutzen wir die Anderen um zu projizieren, daß SIE ursächlich sind - obwohl wir es ganz und gar selber sind, in unserer Unsicherheit.
Gerade in solchen Momenten stolpern wir dann trotzdem Hals-über-Kopf auf den seltsamen Kontinent "Polyamorien", weil wir mit unseren Bestandspartnern das Spiel schon so lange in allen erdenklichen Kombinationen, die sich in der Unendlichkeit immer wieder totlaufen, gespielt haben, daß es uns unerträglich wird. Daß wir die Enge förmlich spüren, in der wir uns selbst gefangen haben.
"Polyamorie" wirkt in solchen Momenten wie eine echte Erlösung, da dort die Menschen, zu denen man sich hingezogen fühlt, wie die Tür zu einem neuen Zimmer voller schöner Dinge, neuer Fähigkeiten, Erfahrungen... sind (Zitat!).
Eigentlich aber ist es wie bei einem Umzug in eine neue Stadt oder einem Jobwechsel: Man hat sich vorgenommen, da quasi bei Null als "Unbekannte" anzufangen, als freies unbeschriebenes Blatt und dort nochmal ganz neu durchzustarten. Diesmal wird es anders...
Oft merkt man dann spätestens nach ein paar Monaten, daß man sich selbst aber doch jedesmal mitnimmt - und sehr viele Dinge geraten auch unter den anderen Vorzeichen zu unserer nicht immer angenehmen Überraschung stark wie zuvor.
Und Neid, unaufgelöster biographischer Ärger, Eifersucht, (Verlassens)Ängste etc. stehen unsichtbar im Zimmer - wie zuvor.
Da wir uns aber gerade massivst bewegt und verändert haben, KANN das aber doch gar nicht unser Gepäck sein.
Das ist alles fremder Ballast...!
Das MUSS von den Anderen sein...
Wenn DU nicht wärst...