Das Thema löst bei jedem, der sich hier beteiligt, etwas aus. Trifft individuelle Punkte im Innern, bewirkt eine Resonanz, vielleicht auch innere Reaktanzen.
Zumindest aber sind wir ja alle Menschen und versuchen uns in die gegenseitige Lage hineinzuversetzen, dies jedoch nicht mit den Erfahrungen des Gegenübers, sondern mit den eigenen persönlichen Lern- und Lebensgeschichten.
Jeder Ratschlag, jedes nette Wort, jede Hilfestellung oder Selbstoffenbarung bleibt also eine subjektive Einzelrealität, die von anderen geteilt werde kann, aber nicht muss.
Ein Psychotherapeut ist immer auch nur Begleiter und Unterstützer, aber niemals Ratgeber. Es sei denn der/die Hilfesuchende fragt explizit nach Rat. Aber auch dann wird ein guter Psychotherapeut den Fragenden immer wieder versuchen auf sich selbst zurückzuführen, weil nur dieser der Experte für das eigene Leben sein kann: Welchen Rat würden Sie sich denn aus meiner Sicht als Ihr Psychotherapeut in Ihrer spezifischen Situation geben?
Selbstverständlich kann sie/er auch ein Vorbild sein oder eine Meinung kund tun. Das kann ebenfalls hilfreich sein.
Jedoch wird ein Unterstützer sich nicht darauf beziehen, was man zuerst erreichen muss, bevor man überhaupt in der Lage ist ein gutes Leben (oder in diesem Fall eine gute polyamore Beziehung) zu führen.
Aus meiner Sicht ist JEDER Mensch poly-beziehungsfähig.
Dazu muss jemand
• nicht erst besitzlos denken,
• nicht erst die eigenen Ängste oder spontanen Eifersüchte bekämpft haben,
• nicht erst selbst vollständig sein und sich wunschlos glücklich fühlen.
Durch menschliche Beziehungen wachsen und lernen wir. Niemand ist permanent wunschlos, niemand ist permanent angstfrei, niemand ist permanent vollständig.
Vollkommen unabhängig davon, welche Art von Beziehungsmodell jemand für sich wählt.
Es wird IMMER Situationen geben, in denen wir uns hilflos fühlen. Und da muss man dann auch nicht direkt eine persönliche Schwäche draus machen a la "Ich bin noch nicht befreit von den Zielen und Bestrebungen des Menschlichen, also bin ich auch noch nicht bereit für eine Poly-Beziehung".
Weil mir das Beispiel der Psychotherapie so gut gefällt:
Als Hilfesuchender kommt man häufig mit den Wunsch in Beratung "Bitte beenden Sie meine Depression, bitte nehmen Sie mir meine Angst, bitte helfen Sie mir meine Dünnhäutigkeit zu beseitigen, ...."
Was ist aber das erste, was dann ein Therapeut oft macht?
Genau. Sie/Er bringt einem erstmal bei die eigenen Gefühle anzunehmen. Und erst im zweiten Schritt darauf zu reagieren.
Jedoch sie dann nicht unbedingt künstlich wegzudrücken, sondern vielmehr gute Strategien zu entwickeln damit konstruktiv umzugehen.
Nichts anderes beschreibt für mich Polyamorie.
Es ist aus meiner Sicht die Fähigkeit sich INKLUSIVE Ängsten, Scham, Eifersucht, Neid etc. (also all den absolut menschlichen Gefühlen, die - weil erstmal unangenehm - oft als "schlecht" bezeichnet werden) in Beziehung zu gehen.
Und dann zu entscheiden: Was kann ICH an der Situation oder an meiner Einstellung ihr gegenüber verändern, damit meine Gefühle in ein gutes Gleichgewicht kommen. Damit die Freude und Lebensbereicherung deutlich mehr Gewicht in unserer Beziehung haben als die schwierigen Momente, die jedoch dennoch ihre Daseinsberechtigung haben.
Selbst wer für sich feststellt, dass die Beziehung mehr Last als Bereicherung ist, ist nicht dazu gezwungen zu gehen. Von außen mag man noch so laut schreien wollen "Bitte kümmere dich gut um dich und verlasse die Situation", aber was genau weiß man denn schon eigentlich von der Situation geschweigedenn von den involvierten Parteien? Meistens ziemlich wenig.
Um meinen ursprünglichen Gedankengang rund zu machen:
Ich bin der Meinung, dass ein Mensch durchaus besitzvoll denken darf. Selbst in der Polyamorie.
Gedanken und Gefühle sind am Ende bloß das: Gedanken und Gefühle. Den Unterschied erzeugt allein der Umgang damit. Selbst der eifersüchtigste Mensch der Welt könnte sich dazu entscheiden dieser Eifersucht zwar in den eigenen Gefühlen, nicht aber im eigenen Handeln Platz zu geben.
Ganzheit halte ich in einer konstruktivistischen Welt für eine Illusion.
Am Ende ist alles eine Frage des Kontextes, was "richtig" und was "falsch" ist.
Und jeder entscheidet selbst, wie er/sie sich verhalten möchte.
Das ist der freie Wille, den wir haben: Gehe ich fürsorglich und konstruktiv mit mir (und anderen) und all meinen Gefühlen (und den Gefühlen von anderen) um oder wähle ich Extrempositionen und drücke entweder alles weg, was da kommt oder lasse mich komplett von allen Gefühlen übermannen.
Gefühle sind der 1. Schritt.
Beziehung basiert aber aus meiner Sicht hauptsächlich auf Verhalten.