Liebe Sylvia,
Vorweg: Mein Beitrag ist mega lang geworden (dennoch ist vieles nur angedeutet) und ich habe lauter Dinge geschrieben, nach denen du nicht gefragt hast, das ist mir bewusst. Es ist ein Plädoyer dafür, all deine Kraft aufzuwenden, den Prozess zu stoppen, in dem du dich nicht weiter selbst zu zerstören, denn ich lese in deiner Schilderung, dass du das tust. Ignoriere das, wenn es dir nichts bringt. Am Ende meine Antwort auf eine deiner Fragen.
„Du beschreibst eine Wahl zwischen Unglück und Unglück.
finde ich treffend ausgedrückt, dennoch halte ich das eine Unglück für toxisch und das andere nicht. Schmerzhaft sind beide. Du sagst, die Akzeptanz ist Folter für dich. Ich glaube, dass du selbst weißt, dass eine Beziehung, in der du nicht lebst, sondern existierst und dich gefoltert fühlst, keine gute Heimat ist.
Meine Überlegungen können nur auf dem kleinen Ausschnitt, den du hier preisgibst, beruhen. So kann es sein, dass ich Wichtiges nicht berücksichtige.
Ebenso dieses Argument, wenn ich meinen Partner liebe, möchte ich, dass es ihm gut geht. Dann sollte er doch auch wollen, dass es mir gut geht.
Das ist sehr wichtig! Ich finde das Verhalten deines Partners nicht liebevoll, in allen Situationen, die du geschildert hast. Es soll hier nicht darum gehen, sein Unrecht zu erklären. Entscheidend ist sein Umgang mit deinen Bedürfnissen und deinem Kummer. Das ist meines Erachtens kein Poly-Thema, sondern ein allgemeines Beziehungsthema: Derart wichtige Bedürfnisse bzw. großes Leid dadurch, dass sie nicht erfüllt werden, müssen auf den Tisch zwischen zwei, die sich lieben (wollen). Und zwar ohne Verurteilung, mit Wertschätzung, ohne die Frage, wessen Bedürfnis falsch ist und wessen Bedürfnis im Recht und wer mehr Schuld hat usw. Letzteres ist kämpfen gegeneinander.
An dieser Stelle ist etwas kaputt.
Mein Mann sagt, er ist genervt, dass ich in einem Tränenmeer versinke und dass er nicht verstehen kann, dass ich so fühle und reagiere. Er wünscht sich Leichtigkeit und dass ich mich für ihn freue, dass er eine zweite Liebe gefunden hat mit der er großartigen Sex hat.
Du sagst, du liebst ihn – sehr. Liebst du die Person, zu der auch dazu gehört, wie er in diesen Tagen, Wochen, in dieser Situation mit dir umgeht und ist oder liebst du deine Erinnerung an ihn, für die du ganz entscheidende Verhaltensweisen ausblenden musst?
Ich kenne das Gefühl, an einer Erinnerung an etwas, was mal da war, aber nicht mehr da ist, festzuhalten und alles dafür tun zu wollen, dass es wieder da ist. Und die Leere und Unvorstellbarkeit dessen, dass es nicht mehr da ist.
Falls das auf dich zutrifft: Das halte ich für massiv selbstschädigend. Das hat eine Person nicht einseitig in der Hand und sie zerstört sich selbst, wenn sie daran festhält, dass sie nur genug Leid ertragen muss, um es zurückzukriegen.
Er hat einen Wunsch, den er dir aber bislang nicht so präsentieren konnte, dass du sagst, du erfüllst ihn ihm gerne. Ein Wunsch bedeutet nicht, dass er unbedingt erfüllt werden muss. Sein Wunsch steht für ihn über eurer Beziehung. Das ist meines Erachtens ok – problematisch ist die Art und Weise, wie er damit umgeht, dass du den Wunsch auf dem Stand, auf dem du jetzt bist, nicht erfüllen kannst. Ihr beide habt Wünsche, die auf dem jetzigen Stand unvereinbar erscheinen. Das muss nicht so bleiben, ist aber mindestens als Ist-Zustand wertfrei anzuerkennen. Man kann ein wertschätzendes Gespräch versuchen, in dem beide die Wünsche des anderen wertfrei als ersten ganz wichtigen Schritt nur
nachvollziehen und nichts weiter. Dies zu schaffen ist nicht mehr als die Grundlage, dass einer von beiden auf den Wunsch des anderen, ggf. ein Stückchen eingehen kann oder beide aufeinander zu. Ohne das geht es nicht. Die Beziehung hat man damit lange nicht gerettet, aber ein bisschen Wärme und Zugewandtheit sollte man im Ergebnis fühlen, wenn dieser erste Schritt gelungen ist. Was ich in deiner Schilderung lese, ist, dass keine Bereitschaft besteht, zumindest von seiner Seite, deinen Wunsch/dein Bedürfnis wertfrei als gegeben hinzunehmen.
Es ist so und es ist 100% ok, dass du so fühlst und es ist ebenso 100% ok, dass er so fühlt wie er fühlt. Wenn man es schafft, diesen wechselseitigen Respekt aufzubringen und den anderen ehrlich zu sehen, wie er gerade fühlt, dann
kann (nicht muss, denn es gibt leider auch unvereinbare Bedürfnisse) man gemeinsam und liebevoll etwas bewegen. Es ist dabei sehr wichtig, dass diese Akzeptanz der Existenz der Gefühle des gegenüber nicht damit gleichzusetzen, sondern davon zu trennen ist, dass man es dem anderen also Recht machen muss und sich selbst dabei verlassen. (Ich kann dazu mehr schreiben, wenn du möchtest.)
Aber da seid ihr gerade nicht. Perspektive eines solchen Gesprächs sollte sein das gemeinsame Interesse (nicht der Zwang, nicht zu jedem Preis!), einen Weg zu finden, mit dem sich beide wohl fühlen können – ohne den äußeren Kampf („wer darf und wer muss was?“) in einen inneren Kampf gegen dein Fühlen („ich muss das akzeptieren, obwohl es mir unendlich weh tut“) zu transformieren und somit sich selbst zu verraten.
Mit deiner Entscheidung für die Beziehung, die, wie du selbst darlegst („… bin Borderlinerin. Die tun alles, um ihren geliebten Partner nicht zu verlieren. Ich versuche sogar, meine Persönlichkeit abzuspalten …“) nicht frei, sondern aus psychischer Labilität getroffen ist, versuchst du mit starker Gewalt, dein eigenes Fühlen, deine Bedürfnisse zu bekämpfen und er tut das Gleiche mit dir. Das ist die Zerstörung der Basis einer liebevollen Beziehung. Man kann das nicht gewaltsam herstellen. Man kann
versuchen, mit Liebe (wenn die denn noch da ist und nicht bloß die Erinnerung an sie), Respekt, Wertschätzung, Zuhören etwas am eigenen Fühlen zu verändern. Es muss nicht funktionieren, aber es ist meines Erachtens der einzige Versuch, der nachhaltig ist.
Er fühlt wie ich, dass wir etwas ganz besonderes haben, ein Geschenk, wir sind seelenverwandt und wollen uns nicht trennen.
Gibt es noch diese Momente, in denen du das fühlst? Das ist eine offene Frage und ich glaube, sie ist ganz, ganz wichtig. Wenn es sie wirklich gibt, wenn du konkrete Situationen benennen kannst, in denen du dich mit ihm glücklich fühlst, ist die Sache schwieriger. Du musst das nicht mir/hier beantworten, darfst du gerne, in erster Linie aber dir – ungeschönt. Ganz ehrlich, auch wenn es sich ganz schlecht anfühlt. Und zwar, um dir selbst treu zu bleiben und dich selbst zu achten und irgendwann in deinem Leben wieder froh sein zu können.
Ein pro Poly Coaching halte ich für keine gute Idee, zumindest nicht so, wie du das hier schilderst. Eine Mittelsperson sollte wertneutral sein und nicht Polyamorie für eine überlegene Erkenntnis halten. Polyamorie ist in meinen Augen in erster Linie keine Sache von überlegener Argumentation, sondern von Fühlen und Sein (was nicht heißen soll, dass sich das Fühlen und Sein niemals ändern könnte – aber das ist nicht der aktuelle Stand). Damit der Beitrag nicht noch länger wird, spare ich genaue Ausführungen hierzu erst mal aus.
Ich denke, dass du dir langfristig besser tust, wenn du gehst. Wenigstens für 1 Jahr. (Mit professioneller Hilfe, die dich nicht irgendwohin bewegen will, sondern dein Wohlbefinden und deine psychische Gesundheit als höchsten Maßstab hat.) Es sei denn, dein Partner ist bereit, deine Probleme zu hören und als Ist-Zustand, an dem man arbeiten kann, wenn man das gemeinsam will, anzuerkennen (statt davon genervt zu sein und zu fordern, dass das nicht sein darf, was du fühlst, sondern du zu fühlen hast, wie es ihm gefiele). Gut wissend, wie unvorstellbar das ist, wenn du psychisch nicht gesund bist und diese Beziehung womöglich einen Großteil dessen ausmacht, was in deinem Leben gut ist. Der Trennungsschmerz kann irgendwann gehen. Die Selbstzerstörung, die du dir gerade antust, so wie du deine Gefühle und dein Verhalten schilderst, bleibt dir erhalten.
Könnt ihr mir vielleicht sagen, warum es sich so viel anders anfühlt, wenn er gemeinsam mit ihr einschläft? Oder ist euch das egal?
Ich empfinde das ganz klar als besondere Intimität. Zwischen mir und meinem mir am nächsten stehenden Partner ist es so, dass wir uns füreinander freuen können, wenn bzw. dass es weitere Personen gibt, mit denen wir solche Intimität teilen können. Es ist uns also nicht egal. Wir reden darüber viel und sehr zugewandt, immer offen dafür, dass sich auch schlechte Gefühle in Richtung Konkurrenz äußern dürfen. Das schafft zwischen und eine besondere Nähe uns auch ein Gefühl von Sicherheit
und Freiheit.
Ich habe dazu die (offene) Rückfrage: Hilft es dir, das zu erfahren? Es würde mich freuen, wenn ja, aber ich fürchte, dass nicht.
Ich wünsche dir ganz, ganz, ganz viel Kraft, deine Entscheidung auch mit Blick auf mittel- und langfristige Zufriedenheit für dich zu treffen.