Ein Hoch auf die Komplexität!
Wir können gegen Schubladen wettern und dabei die Menschen, die andere Menschen in Schubladen stecken in eine Schublade stecken. Wir können Schubladen vergleichen und daraufhin neue, übergeordnete Schubladen anlegen. Aber solange wir das nur auf dem eigenen Erfahrungshorizont aufbauen, bleiben wir bei anekdotischer Evidenz. Man könnte es auch Vorurteil nennen. Tritt man einen Schritt zurück, beobachtet man soziologische Phänomene. Dafür muss man dann anders arbeiten, als andere nach ihren Schubladen/Vorurteilen/Anekdoten fragen.
Alleine in dieser Gruppe gibt es so viele verschiedene Formen von Polyamorie. Menschen, die Polyamorie ganz spießig und klassisch als Beziehungsform für LTRs (long term relationship -Langzeitbeziehung) ansehen. Menschen, die Polyamorie als Freiheit und ungebundenen Fluss von Gefühlen in verschiedene Richtungen verstehen. Menschen, die Polyamorie als Seitensprung ohne Heimlichkeit verstehen. Menschen, die Polygamie immer wieder mit Promiskuität verwechseln und sich mit ihrer Polyamorie davon abzugrenzen versuchen. ...
Bei Swingern wirst du ähnliches finden. Da gibt es Menschen, die nur zusammen mit anderen sexuelle Abenteuer erleben wollen. Da gibt es Paare die auf Event förmlich aneinander kleben, weil sie Angst haben, dass Gefühle und Zuneigungen unkontrolliert entstehen. Da gibt es Menschen, die nach wildem animalischen Kontakt suchen und die Mitspieler zu Objekten der Begierde werden lassen. Menschen, die das einfach als ungezwungenen Weg zu Triebbefriedigung ansehen. Menschen, die die recht freie Auslebung sexueller Begierden ohne Verurteilung genießen. Menschen, die Spaß daran haben zuzusehen oder zusehen zu lassen. ...
Dazu kommt, dass jede Gruppe sich zur Selbstidentifikation ein Label verpasst. Welches das ist, hängt von der Begriffsdefinition und Begriffsverständnis der "Gründungsmitglieder" ab. Soziale Verwerfungen innerhalb dieser Gruppen oder ein Aufeinandertreffen zweier Gruppen verursachen Abgrenzungserscheinungen oder Verschmelzungen, wodurch sich weitere Abstufungen und Unterschiede finden lassen.
Daher hilft diese Frage eigentlich nicht. Jeder kann hier sein kleines Fenster an Erfahrungen mit individuellen Ausprägungen dieser Gruppen teilen. Auf diesem Weg können keine Blasen zum Platzen gebracht werden, sondern entstehen höchstens neue. Da der sozialwissenschaftliche Ansatz viel zu aufwändig ist, und dir konkret am Ende auch gar nicht hilft, bleibt es nur den Umgang der eigenen Sozialkontakte mit dem Thema zu erfragen oder neue Sozialkontakte aufzubauen, um die eigenen Blasen zum Platzen zu bringen.
Ich verkrieche mich jetzt wieder in meine Schublade Klugscheißer.
Genau das musste ich bei dem Thema "Schubladen" auch denken. Danke für die tolle Formulierung.
