Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen
Lieber Raubtierbändiger,
ich mag ein paar Denkanstösse geben. Bitte lies sie als
meine Gedanken und
meine Wahrnehmung, auch wenn ich nicht GFK-Stil schreibe ("Gewaltfreie Kommunikation"), sondern "Du" sage, Behauptungen aufstelle und Aufforderungen an Dich richte. Ich finde das einfacher und direkter, - bitte nimm davon nur das, was für Dich stimmt!
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Du fühlst Dich unter Druck gesetzt, und reagierst (unter anderem) aggressiv (verärgert, zornig). Das ist die normale Reaktion auf Druck, oder? Und es ist nicht leicht, sie fruchtbar zu machen, so dass sie fördert, nicht zerstört.
Ich habe zwei Fragen:
(1) Woher kommt der Druck?
(2) Wer ist das Subjekt, gegen wen oder was setzt Du Dich (innerlich) zur Wehr?
Zu (1): Du trägst ein starkes Verantwortungsgefühl. Das hat eine große Schönheit und eine große Kraft. Doch Vorsicht:
weil ich mich von heute auf morgen in einem anderem Lebenskonzept wieder finde und ich mich sorge. Was passiert mit den Kindern, sollte ich feststellen, Poly-Leben ist zumindest z.Z. nichts für mich.
Denn ich finde, hier gehst Du zu weit. Ob Du am Ende Polyamor leben wirst und willst ist noch nicht raus. So verständlich (und schön auch!) es ist, dass Du Dich sorgst: Die Was-wäre-Wenn-Gedanken bringen nichts, ausser mehr Druck, oder sie sind Ausdruck desselben. Weise sie in ihre Schranken. Ihr seid im Prozess, der Ausgang ist offen. Was sein wird, wenn er durch ist, sieht man dann. Gib Deiner Sorge Respekt, gib ihr Ausdruck, lass die Kraft wirken, die darin liegt (Du willst diese Familie!), aber lass Dich nicht von der Sorge bestimmen.
Zu (2): Du fühlst Dich
von Deiner Frau unter Druck gesetzt. Aber ist sie nicht genauso in diese Situation hineingeraten, wie Du? Ihr tragt Verantwortung dafür, wie ihr jeweils damit umgeht. Aber dass es so ist wie es ist - das ist einfach so. Du kannst davon ausgehen, dass Deine Frau nicht losgezogen ist mit der Absicht, sich zu verlieben, und schon gar nicht mit niederen Beweggründen darin. Es ist passiert. Vielleicht kannst Du Eure Beziehung ein Stück weit aus der Schusslinie Deiner emotionalen Reaktion herausnehmen. Es ist nicht Deine Frau, die Dich in eine für Dich schwierige und als Drückend empfundene Situation gebracht hat, denn das war nicht ihre Absicht. Die Situation entsteht, das ist das was passiert (ist). Wie wir damit umgehen,
das ist Verantwortung. Und um diese ringt Deine Frau genauso wie Du. Sie will ihre neue Beziehung leben und ihr Raum geben. Gut, das ist Entscheidung, hier fängt Verantwortung an, - und zwar erst mal ihre für sich selbst und Deine für Dich. Und dann gemeinsam für Eure Familie und Eure Kinder.
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Die Panik, die Hilflosigkeit, dieser ganze "Mist" ist wichtig, um zu lernen, wo man steht, wo man stehen KANN - um Ruhe und Frieden zu finden für sich, selbst wenn drumherum emotionales Chaos herrscht.
Zu lernen, selbst stehen zu bleiben, egal was auch in einem selbst vorgeht, darum ging es mir. Und die Erfahrung hat man selten in einer monogamen Beziehung, da ist man gewohnt, nachzugeben, flexibel sich auf EINEN einzustellen. Aber das funktioniert nicht, wenn man zwischen ZWEIEN steht. Und wie ich gelernt habe, funktioniert es auch nicht für den WING.
Danke, Venice. So habe ich das auch erlebt. Als ich mich für Poly entschieden habe hatte ich bald ein Gefühl als hätte ich einen Stein auf das Gaspedal meiner inneren Entwicklung gelegt. Vorbei mit der Gemütlichkeit, mit dem Sich-Einrichten in Beziehung(en). Ich habe nie so schnell gelernt wie in den ersten Monaten als "Poly". Mir blieb nichts anderes übrig. Und hinter allem "oh Scheiße" wußte ich: ich will das.
Und Du, Raubtierbändiger? Nochmal zwei Fragen:
(1) Willst Du das? Bist Du bereit, Dich auf diesen Deinen Prozess einzulassen mit Haut und Haaren, koste es was es wolle? Sagst Du wirklich "Ja" dazu? Bist Du bereit, das anzunehmen: dass Du Dich in einer Situation wiederfindest, die sich anfühlt als hättest Du keine Wahl (weil Du vielleicht heimlich vorher schon gewählt hast)?
(2) Willst Du Deine Frau? Stehst Du zu ihr und Eurer Beziehung, noch bevor Du darüber nachdenkst, welche Konsequenzen das hat? Gibt es da den Mann in Dir der sagt: Ja, mit Dir will ich gehen, egal wie herausfordernd der Weg auch sein mag?
Und: Wir haben immer eine Wahl. Die Situation ist wie sie ist, aber wir können Ja oder Nein dazu sagen, in uns. Das macht einen riesigen Unterschied.
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Wir haben "poly" nicht gelernt. Nach allem, was ich bisher erfahren habe, fällt es den wenigsten Menschen in den Schoß. Es kann sein Deiner Frau fällt es schwer, in ihrer herzoffenen Liebe zu Dir zu bleiben, während sie
gleichzeitig innerlich sich dem anderen Mann zuwendet. Viele Menschen switchen. Das fühlt sich für mich dann immer so an, als wäre der andere plötzlich irgendwie weg. Ich habe auch schon öfter erlebt, dass derjenige, der sich grade selbst einer anderen Person zuwendet und dabei die Verbindung mit mir nicht wirklich halten kann das Gefühl hat,
ich wäre weiter weg oder wir entfremdeten uns, und erstmal kein Bewußtsein darüber hat, dass das etwas ist, was er (oder sie) unbewußt aber aktiv tut. Es ist gut, das zu wissen, finde ich.
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Ihrer Ansicht nach ist der Neue allemal so wichtig geworden ihn quasi auf Augenhöhe mit mir zu stellen. Und das nach nicht mal 2 MOnaten.
Für mich gibt es auch in "Poly-Systemen" sowas wie natürliche Ordnungen, wie wir sie aus dem klassischen Familienstellen her kennen. Und dazu gehört für mich "das Recht des Älteren / der älteren Beziehung". Ich glaube zu wissen was hier mit "Augenhöhe" gemeint ist und lese das als den Versuch der Raubtierbändigerin zum Ausdruck zu bringen, welchen Stellenwert die neue Beziehung in ihr hat. Das ist fein. Aber Du bist seit 10 Jahren mit ihr zusammen und hast eine Familie mit ihr. Das gehört anerkannt und respektiert, und zwar von allen Beteiligten (also von Dir in Dir selbst, von ihr und von ihm). Ist meine Meinung.
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Ich brauche einfach etwas Zeit das alles zu sortieren...
Ja! Und was brauchst Du, damit Du die hast?
Ich würde versuchen zu klären:
Willst Du (erstmal, denn das Ende bleibt offen) weitergehen mit ihr?
Will sie weitergehen mit Dir?
Was sind Eure Bottom-Lines, der Mindeststandard, was braucht ihr jeweils, damit ihr miteinander weitergehen könnt?
Wenn das klar ist würde ich eine Vereinbarung treffen auf Zeit, etwa so: Ok, wir geben uns jetzt mal drei Monate, in denen wird keiner von uns dem anderen den Laufpass geben, egal was passiert; wir werden miteinander im Kontakt bleiben und einander alles mitteilen, was unsere Beziehung betrifft; wir treffen Vereinbarungen für den gemeinsamen Alltag, die für beide tragbar sind, so dass jeder von uns Raum bekommt, Du für Dich, und sie für sich und ihre neue Liebe; wenn wir anfangen, unfruchtbar zu streiten, dann werden wir uns Unterstützung von Aussenstehenden holen, bevor es zu spät ist. Das sind wir uns wert, das ist unsere langjährige Beziehung, unsere Familie uns wert.
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irgendwas bereitet mir Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen in der Art wie Überzeugungen versucht wird zu vertreten.
Es ergibt sich hier, meines Erachtens, eine Grundsätzliche Frage zur Art des wie, auf welche Weise, wird hier ein Lebenskonzept "verteidigt".
was stößt Dir denn auf an dem "Wie"? Kannst Du das näher beschreiben, oder Zitate bringen?
Dies ist ein Poly-Forum; es wäre verwunderlich, wenn hier nicht die eine oder andere Fahne gehisst würde für diese Lebensform. Du hast gefragt. Vielleicht kommen Deine Bauchschmerzen und Kopfzerbrechen aus Deiner Reaktion auf die Situation in der Du bist (in der Du keine Wahlfreiheit fühlst), - was nur noch schlimmer wird, angesichts gehisster Fahnen? (Nur eine Vermutung von mir).
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Raubtierbändiger, ich danke Dir für Deine Offenheit, Dein ehrliches Ringen und dass Du Dich ungeschminkt zeigst, und last but not least für diesen spannenden Thread! Ich wünsche Dir Klarheit, und dass Du mit der Kraft Deines Herzens verbunden bleibst - für Dich selbst, für das Leben und für andere.
Martin
PS: Liebe Raubtierbändiger
in, wenn Du dann lesend Dich bis hierhin durchgeschlagen hast: ein herzliches Willkommen Dir! Ich würde mich sehr freuen, Dein Erleben und Deine Sicht der Dinge lesen zu dürfen, und ich bin mir sicher, das geht nicht nur mir so.