Treue und Authentizität
Soukie:
"Treue" ist doch letztendlich nichts anderes, als Authentizität, oder?
Wie so oft in zwischenmenschlicher Kommunikation fehlt diesem Satz der präzise Bezug. Unter Treue wird oft die Verlässlichkeit in Bezug auf eine gemeinsame Sache verstanden. Zur Defintion dieser Sache gibt es implizite und explitzite Normen.
Letzlich kann ich (auch mir) nur treu sein, wenn ich Normen und Treueobjekte auch für mich zu 100% anerkannt habe und sich meine Haltung nicht irgendwann ändert.
Denn was nützt ein Treueversprechen, wenn ich irgendwann ankomme und sage, dass ich eine Vereinbarung geändert wissen möchte? Es wird genügend Menschen geben, die schon den Gedanken als Untreue empfinden.
Da wird erkennbar, dass es bei den Beteiligten eines Treueversprechens gemeinsame Haltungen darüber geben sollte, wann etwas als Untreue gilt (Wertekonsens).
Aber Wertehaltungen eines Menschen sind dynamisch, oder?
Treue ist nur in Authentizität möglich, aber nicht jeder authentische Mensch ist treu.
"Authentisch" meint "Echtheit". Wikipedia meint:
"Als authentisch gilt ein solcher Inhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung,
(meine Anm: nämlich) unmittelbarer Schein und eigentliches Sein, in Übereinstimmung befunden werden."
Auch wenn hier die Differenzierung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung fehlt wird hier klar, dass auch Lügner, Heuchler, innerlich zerrissene, ambivalente Menschen in ihrem Sein authentisch sein können, sofern das in der Wahrnehmung für andere Menschen erkennbar wird.
Extremfall: wer offen zugibt, dass er intrigiert, trickst, manipuliert, lügt, keine 'Versprechen einhält, egozentrisch, narzistisch ist usw., könnte (zumindest theoretisch) authentisch sein, aber die weinigsten Menschen werden das so empfinden.
Was landläufig unter "Treue" verstanden wird, atmet Verlässlichkeit, Beständigkeit, Berechenbarkeit, Sicherheit. Das "deutsche-Eiche-Ding" eben (Danke, Luvvy). Imho kommt das aus dem Wunsch, Keine Angst haben zu müssen, ohne etwas kontrollieren zu müssen. Dass einfach jemand da ist, den ich verstehe, und auf den ich mich verlassen kann, und von dem ich weiß, wie er im Wesentlichen ist und (am besten immer, wenn es mir gut tut) sein wird. In welchem Maß das Delegation von Selbstverantwortung und (selbst)blinde Angstabwehr ist, ist ein anderes Thema.
Wenn ich hingegen offenbare, dass ich gerade in einer Phase bin, in der sich meine Überzeugungen schnell ändern, und ich kommuniziere das, kann ich mir gut treu sein, aber von einem Partner mit dem Eiche-Treue-Verständnis wird das nicht so empfunden werden können.
Bleibt also die Kernfrage für jeden Einzelnen: wo und wie kann ich treu sein in einem Sinn, der konsensual dem Treueverständnis meines Partners entspricht? Die leb- und fühlbare Treue für beide Beteiligten liegt in der Schnittmenge.
Selbst, wenn das im Paarkontext harmonisch gelöst werden kann: im polyamoren Kontext kann es Werte- und Handlungskonflikte geben, und ich entscheide von Situation zu Situation unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten nach den Prinzipien einer ausgewogenen Güter- und Übelabwägung, so gut ich das kann. Deshalb setze ich meine Treueversprechen ziemlich niedrig an im Rahmen dessen, der meiner Selbsttreue entspricht:
Polyamory: Neue Liebe, neue Treue?
Bei konfligierenden Bedürfnissen zwischen meinen Partnerinnen könnte es also sein, dass ich, um mir selbst treu zu bleiben, eine Treuevorstellung mal der einen, mal der anderen Partnerin verletze, wenn die Treuevereinbarung zu weit gefasst wurde, obwohl die Schnittmenge mehr zulassen würde. Wenn ich diesen Fehler mache, könnte es sein, dass ich treu und untreu zugleich werde - je nachdem, aus wessen Perspektive ich ein Geschehen betrachte.
Also kann ich treu und untreu, authentisch und nicht authentisch zugleich sein - je nach Wertekonsens, Betrachtungsperspektive, und -abstand auf eine konkrete Situation und ihre Beteiligten bezogen. Seit ich das erfahren habe, ist der Begriff "Treue" im traditionellen Verständnis für mich in polyamoren Beziehungen weitgehend ungeignet und deshalb obsolet. Er bedarf neuer Inhalte.
War schön, mich zur Abwechslung mal wieder der Polyamorietheorie zuwenden zu können; mit Rücksicht auf die Länge des Beitrags ud die Geduld der LeserInnenschaft habe ich auf Beispiele verzichtet.
Ansonsten befinde ich mich derzeit in einer praktischen Phase. Die Erkenntnisse daraus wird irgendwann in meinen Beiträgen erkennbar werden, wenn sich etwas ändert.
Nichts ist beständiger als der Wandel...
T
M