Neue Liebe, neue Treue?
Liebe lebt, Liebe geht. „Treue“ auch.Diese statistisch verifizierbare Lebenswirklichkeit entspricht so gar nicht dem herrschenden Ideal. Das bringt Menschen in Konflikte, Gewissensnöte, Kinder in Not, treibt Unternehmen in den Ruin, löst Gewalt aus, Heimaten zerbrechen.
Was tun?
1. So weitermachen? Ist ja nur ein Ideal, und das kann bekanntlich niemals vollständig erreicht werden. So nach dem Motto: Kopf in den Sand, härter arbeiten, bis es irgendwann erreicht wird…?
2. Das Ideal an die gelebte Realität anpassen, alte Werte ändern und damit „verraten“? Oder wäre das eine sinnvolle Anpassung der Werte an die aktuelle Lebenswirklichkeit der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft, die so ganz anders ist als die der Romantik?
3. Werte völlig aufgeben, weil sie, bis sie sich etabliert haben, ohnehin schon wieder überholt sind in einer dynamischen Zeit? Leben ohne die Werte von Liebe und Treue und allem, was damit verbunden ist – geht das, und wie und wohin führt das? Wollen wir das? Welchen Sinn hätte es? Könnte das ein Paradies sein, in dem wir nur im Jetzt, im Moment leben? Dazu fordern uns maßgebliche Philosophen doch immer wieder auf, oder nicht?
Leben ohne die liebgewordene Scheinsicherheit von Vereinbarungen und Versprechen für die Zukunft?
Die „reine“ Polyamorie scheint mir im Vergleich zur gelebten ein Übergangsmodell von der Monoamorie zu einem Irgendetwas sein, das den Gedanken der „reinen“ Polyamorie bereits jetzt überlebt hat.
Auf mich wirkt es manchmal so aus, als würden in der gelebten Polyamorie Werte des romantischen Liebesideals mit einem „mehr…“ verknüpft, das individuell unterschiedlich Elemente von freier Liebe, Gelegenheitsliebe, Promiskuität, Swingen, Suche, Sucht, Gier, Konsum, und was weiß ich noch verbindet. Jedermensch bastelt sich aus allem ein moralisches Geflecht, mit dem es ihm gut geht und andere Menschen hoffentlich nicht zugrunde gehen.
Zu diesen Überlegungen komme ich aus Selbst- und Fremdbeobachtung.
1. Ich habe auf meinem „polyamoren“ Weg so viele Fehler gemacht und Versprechen gebrochen, dass ich auf umfangreiche Lernerfahrungen zurückgreifen darf . Ich war in dieser Zeit zweimal verlobt, und die Verlobungen wurden „wegen einer Anderen“ wieder gelöst. Werte, Gefühle und meine Sexualität haben sich geändert. Immer wieder kam ich mir dabei „untreu“ vor. Selbst wenn ich die Beziehung in einem anderen Modus fortsetzen wollte. Der Treuebegriff, so wie ich ihn verstand, wirkte immer wieder schräg in meiner neuen Lebensform. Immer wieder passte er nicht.
2. Ich habe einige unterschiedliche „Polies“ erlebt, die nach wenigen Momenten oder Stunden Sex miteinander hatten und, das behaupte ich jetzt mal, bestimmt weder Liebe im romantischen Idealsinne anstrebten noch irgendeine Verbindung, geschweige denn Verbindlichkeit über den Zeitpunkt der Begegnung hinaus. Begegnungsmöglichkeiten dafür habe ich selbst organisiert, weil ich eine Lücke im Begegnungsmarkt zwischen Poly-Beziehung und Swingen erkannte.
Das Ergebnis bei allen drei Treffen dieser Art war, bei jedem auf seine Weise, dass Menschen sich sehr nahe, vertraut, intim, persönlich begegnet sind – auch in Konfliktsituationen - und eine sehr bereichernde Erfahrung für sich mitgenommen haben, und zwar nicht nur auf sexueller Ebene. Das zwischenmenschliche Miteinander in diesen Situationen war immer wieder wertvoll und stimmig für sie.
Es geschah etwas, das in keine der bekannten Gefühlsschubladen passt und dennoch einen emotionalen Wert für die beteiligten Menschen hatte. Dieses „Etwas“ war einfach präsent. Nicht angeleitet, nicht organisiert oder sonst was. Es kam aus den Menschen selbst, weil es ist, und der Raum dafür geschaffen war. Das konnte und kann ich nicht in die Schubladen von Wahllosigkeit, Konsumdenken, Anonymität oder Belanglosigkeit packen. Aber auch nicht in die bekannten Begriffe, die irgendwelche Liebes- und Sexualverhältnisse zu benennen versuchen.
Manchmal wurden Begegnungen unter den beteiligten Menschen wiederholt, auch über längere Zeit.
Da lebt etwas Wertvolles in uns, das gerne gelebt wird, das aber nicht unbedingt wiederholt werden muss. Das beginnen, blühen, welken und enden darf. Ich nenne das „Nähebegegnung“.
Jetzt könnte ich versuchen, die zwischenmenschliche Begegnungsqualität aus den Erfahrungen meiner Treffen zu beschreiben, aber das führt hier zu weit. Jede/r der Beteiligten das für sich bisschen anders erlebt. Im Kern ist es jedenfalls gefühl- und respektvoll, Menschen auch in intimen Situationen und Offenbarungen annehmend und ihnen wohlwollend zugewandt.
Wenn sich diese Momente, jeweils bewusst und in Freiheit gewählt, ein Leben lang wiederholen würden, wäre sogar das Kriterium „lebenslänglich“ unseres Liebesideals erfüllt – u.U. mit mehreren Menschen.
Angesichts der Werte- und Beziehungskonflikte, die sich in den aktuellen Beziehungsmodellen (incl. Polyamorie) durch das romantische Liebesideal ergeben, habe ich mich gefragt, ob sich aus der Qualität in diesen Begegnungen Werte finden lassen, die die herkömmlichen mit den daraus abgeleiteten Gefühls- und Handlungserwartungen aktualisieren könnten.
Den Versuch eines neuen Werteverständnisses von Liebe und Treue möchte ich wagen:
1. Ich ersetze den Begriff „Liebe“ durch „Nähe“ (persönlich und körperlich)
2. Ich ersetze den Begriff „Treue“ durch „friedfertiges Wohlwollen“.
Der alte Satz „Wir lieben uns und sind uns treu“ lautet dann:
„Wir begegnen uns nah mit friedfertigem Wohlwollen“.
Der wesentliche Unterschied kommt in den Worten nicht zum Ausdruck – nur in den Vorstellungen, die die Worte in uns auslösen. Der Unterschied ist die Projektion einer Vorstellung von Dauer, die mit Satz 1 ausgelöst wird.
Satz 2 wirft diesbezüglich Fragen auf, weil die Schlüsselwörter und die damit verbundenen Assoziationen und Erwartungen nicht ausgelöst werden, und das ist gut so.
Die Qualität von „Liebe“ im Sinne von friedfertiger, wohlwollender Nähe kann jedem Moment gelebt werden und muss nicht unbedingt fortgesetzt werden, um nachhaltig wirksam zu sein. Das Gesicht und das Verhalten eines fremden Reisenden im Zug, dem wir eine sehr persönliche Geschichte erzählt haben, kann uns viele Jahre begleiten und ebenso auf uns wirken, wie wir uns vielleicht heute noch an einen fremdem Menschen erinnern, der uns als Kind einmal getröstet und in diesem Moment vlt. mehr ins Leben mitgegeben hat, als manche unserer „lieben“ Verwandten.
Diese Qualität im menschlichen Miteinander ist es imho, auf die es ankommt.
Wie oft, wie lange, das ist vielleicht für Eltern und Kinder in einer Lebensgemeinschaft wichtig. Das ist ein umfangreiches Thema mit anderen Facetten und kann ggf. von Interessierten separat behandelt werden.
Warum schreibe ich das hier?
1. Mich interessiert Eure grundsätzliche Meinung zu einem anderen Liebes- und Treueverständnis, wie ich es angerissen habe. Braucht die Welt in diesem Punkt eine Veränderung und wenn ja, wie könnte sie aussehen?
2. Ich möchte Euch einladen, die von mir nur angerissenen Begriffe „Nähe“ und „friedfertiges Wohlwollen“ mit Inhalten zu füllen. Wie könntet Ihr Euch für Euer Leben ein bereicherndes emotionales und sexuelles Miteinander vorstellen – ohne den Wunsch nach Dauer? Was wünscht Ihr Euch für erfüllende Nähebegegnungen (s.o.) hinsichtlich Kommunikation, Berührung, Aktivitäten oder Anderem im Miteinander?
Wohlgemerkt: Die klassische Wohn- und Lebensgemeinschaft soll nicht generell ausgeschlossen werden, aber das Miteinander soll geschehen in dem Bewusstsein, dass jede Begegnung die letzte sein kann und darf.
Was wäre für Euch "friedfertiges Wohlwollen" in der Begegnung? Wäre es als Versprechend genügend, wenn zwei Menschen sich zukünftig in dieser Haltung begegnen wollen? Würde Euch das als "Treueersatz" überhaupt reichen?
3. Ich sehe die Chance, dass Beziehungsmodelle entbehrlich werden könnten, wenn es nur um die Qualität im Moment der Begegnung geht – und daran gearbeitet wird. Psychologisch, Pädagogisch, politisch, philosophisch, paradigmatisch auf jeder Ebene.
Dann würde vlt. viel Leid entbehrlich, das mit dem aktuellen Beziehungsideal verbunden ist. Dafür einen Denkanstoß zu geben, ist mir ein Anliegen.
lich
TM