Ich glaube ich verstehe euch nicht, oder ich verstehe es einfach ganz anders.
Jede Begrifflichkeit ist gleichzeitig auch eine Einschränkung, eine Voreinstellung. Begriffe brauchen wir, um uns zurechtzufinden, in der materiellen Welt wie auch in Beziehung zueinander. Durch die Entstehung von Begriffen und besonders dem Erlernen von Begriffen wird aber auch eine Zuordnung geschaffen, die das unmittelbare Erleben erschweren oder zumindest kanalisieren kann. Schlimmer aber: wir suchen für ein bestimmtes Erleben sofort auch eine Begrifflichkeit und ordnen unser Erleben, Empfinden und Handeln in diese ein. Und unser Erleben und Handeln wird eingeordnet, einer bestimmten Begrifflichkeit untergeordnet. In unserer Sozialisation mit Kindheit, Jugend und Erziehung ist es damit ganz einfach, Gefühle auch direkt zu kanalisieren: wenn du so empfindest, ist das Verliebtsein, und mit dem Begriff verliebt sind x viele Beschreibungen, Zuordnungen und Voreinstellungen verknüpft. Will sagen: Begrifflichkeit ist nicht nur Struktur im positiven Sinne, die uns hilft, eine Landkarte von uns und der Welt zu erstellen, sie ist auch Terror, Kanalisierung und entfernt uns von unserem ganz eigenen Erleben.
Ich für mich persönlich kann sagen, das die hinter den Begriffen mitgeschleppten Bedeutungen und Voreinstellungen einfach nicht getragen haben. Ich bin verliebt - das ist Dasunddies. Sexualität ist diesunddas - da werden automatisch Dutzende kulturelle Voreinstellungen, soziale wie religiöse, einfach mitgeschleppt und mit dem Erleben und Handeln verknüpft. Und ganz vielen Menschen ging und geht es genauso: Moment, entspricht das wirklich meinem Empfinden? Ist das wirklich so; ist Liebe wirklich so, müssen Beziehungen wirklich so sein? Und: Muss ich mich wirklich dieser Begrifflichkeit unterwerfen, damit ich handlungsfähig bin, oder kann ich in meinem Inneren selbst mein Empfinden verorten, mir selbst vertrauen und mit diesem Vertrauen in Begegnungen und Austausch gehen?
Will vereinfacht sagen (weil mir mal wieder Sprache fehlt): viele viele Menschen gehen doch den Weg, in ihrem eigenen Inneren oder über ihr eigenes Innere den Anschluss an Leben und Liebe zu finden und verweigern sich immer mehr dem Terror von Voreinstellung und fremdbestimmtem Handeln, gerade in Bezug auf Liebe, Sexualität und Beziehungen.
Bei mir war es so, das ich nach vielen Jahren unbeholfenem und und unsicherem schuldgefühlbelastetem Liebes- und Beziehungsleben erst den Begriff von Polyamorie überhaupt gefunden habe, und ein großes Glück, das ich bei der Liebesakademie im Zegg in sehr vorsichtigem Umgang mit diesen Begriffen in eine Reflexion und Erfahrung gegangen bin; mehr noch, diese Begriffe nicht zum Verorten eingesetzt werden.
Und ich halte es für völlig unsinnig, (selbst-)ausgrenzend und autoritär, wieder in diese Begrifflichkeit zu verfallen oder gar sich selbst und andere an diesen Begrifflichkeiten zu bewerten. Bin ich noch polyamor, wenn ich einen Menschen treffe, mit dem ich einvernehmlich tollen Sex habe, ohne mit ihm zu frühstücken? Oder ist das nicht ein NoGo für einen Polyamoren, einfach Lust ohne Gefühle für den Anderen zu leben - was immer damit gemeint sei, was nun Gefühle sein sollen, die zum Sex legitimieren können sollten. Hunderte von Bewertungen und Voreinstellungen - bitte wem sollen die denn helfen? Begegnest Du so wirklich Deinem Gegenüber?
Bittebittebitte: lasst uns in einen Austausch gehen, der uns selbst beschreibt und nicht irgendeine Begrifflichkeit und Schublade. Lasst uns doch nicht schon wieder dasselbe tun, was in der Gesellschaft immer wieder passiert ist, besonders in der deutschen, nämlich einen Verein aufzumachen, wo die Zugehörigkeit nicht nur vom Vorsitzenden durch Gesinnestest entschieden wird, sondern wir selbst uns so gern einer Gruppe zuordnen, weil wir diesen und jenen Voreinstellungen entsprechen und uns zuhause fühlen. Und der andere da drüben ja nicht, der ist anders und gehört nicht dazu.
Vögeln ohne Gefühl - geht gar nicht. Nicht polyamor. Ist promiskuwasweissich. Wow. Schlechtes Gewissen? Entspricht nicht dem Kodex? Naja bevor du dich jetzt ganz schlecht fühlst, such mal im Joy, ob es nicht eine Gruppe, einen Kleinverein gibt, der Dich aufnimmt und mit dem Du Dich identifizierst. Dann hast du ein Zuhause und kannst auf die Polys schauen und sagen: boh Sex erst dann, wenn man am Abend auch in den Kühlschrank geschaut hat, ob die Milch für den Frühstückskaffee auch da ist.
Will sagen: das trennt uns doch, das hindert uns doch an Austausch, Erfahrung und Miteinander.
Ps: im Buch "111 Gründe, offen zu lieben" ist unter dem 71. eine ziemlich schöne Erläuterung für "queer". Ungender und unsex so von mir empfunden und immer gemeint; die Verweigerung der begrifflichen Voreinstellung, Lust, Neugier und Mut hinzuschauen und hinzufühlen. Das meine ich mit Lateral.