Im Spiegel
Jeden Morgen erblicke ich mich selbst im Spiegel. Dann schauen mir zu dominante Geheimratsecken, eine unförmige Knollennase, lauter Falten, wenn auch Lachfalten, im Gesicht, eine viel zu trockene Haut und dünnes Haar ohne Spannkraft entgegen - öfters unversöhnlich und dann wiederum ab und an, wenn auch selten, freundlicher. Der Busen hängt auf dem Oberbauch. Die Oberschenkel sind viel zu dick und haben Cellulitis, und die Füße leiden unter der Senk- und Spreizkrankeit. Also ich meine, das Letztere sehe ich zwar nicht bei meinen allmorgendlichen Rundumspiegelblick, aber ich habe noch die Worte meines Arztes im Ohr. Außerdem gewährt mein großer Bauch gerade noch so den Blick auf meine Fußspitzen, wenn ich kerzengerade stehe. Mein Irgendwo-da-unten bleibt mir allerdings verborgen.
Ich habe Worte wie „Pickelgesicht!“ oder „Lass mal deine Hasenzähne abschleifen!“ oder „Mit dem Pizzagesicht tanze ich nicht zum Abschlussball!“ oder „Fette Kuh!“ oder „Karnickelfratze!“ oder „Du bist kein graziler Schwan!“ oder „Die ist doof!“ im Ohr. Ich weiß auch noch sehr wohl, vor welchem Pulk an Gemeinheiten ich immer nach der Schule davongerannt und den steilen Berg hinaufgeeilt bin.
Nur sollte das heutzutage eigentlich Geschichte sein. Doch es ist meine. Und wie kann meine Geschichte denn einfach Geschichte sein, wo ich doch tagtäglich damit konfrontiert bin, mich allmorgendlich im Spiegel zu erblicken und eine Frau zu sein, die ich nicht bin, die ich nicht sein will …?
Das ist eine Krux. Ich sehe mich allmorgendlich in diesem Spiegel und werde an meine Vergangenheit und daran, dass ich äußerlich kein „Mann“ bin, erinnert. „Wie soll ich mich bitteschön so lieben?“, frage ich mich täglich aufs Neue.
Und dann noch der Typ, der mich damals an diesem steilen Berg einholte und seinen Schwanz nicht in der Hose lassen konnte … Das ist auch Teil meiner Geschichte und noch längst nicht Geschichte …
Aber dann wiederum blickt mir manchmal mein Humor aus dem Spiegel entgegen. Der lässt mich dann Faxen mit mir selbst machen, und ich werde innerlich weich. Dann vergesse ich für einen Moment meine Geschichte und umsorge mich.
Ich pflege meinen Körper und koche ihm leckere Sachen, oder ich bin kreativ zu meiner Seele und male, schreibe oder mache alberne Selfies und gehe danach in meiner phantastischen Welt spazieren.
Es kann aber auch sein, dass ich in solchen Momenten gesellig werde und entweder meine Leute heimsuche oder mich ins Leben stürze, egal ob ich mir selbst fremd bin oder nicht. Ich mache dann halt das Beste aus meiner Situation und zeige meiner Geschichte den linken Stinkefinger.
Und ich kann sagen, das geschieht mit den Jahren immer öfters, als es ursprünglich einmal angedacht gewesen ist. Denn das Leben ist schön bunt, und darin finde sogar ich meinen Plautz.
Und du schaffst das auch!
© CRK, Le, 06/2020