Schuld und Vergebung
Es ist zwar OT - aber meinethalben:
Mit "Schuld" kenne ich mich einigermaßen aus - ich bin Jurist. Wir unterscheiden Absicht, direkten Vorsatz, indirekten Vorsatz (dolus eventualis), grobe Fahrlässigkeit, einfache und schließlich auch noch leichte Fahrlässigkeit - und ganz besonders spitzklickerige Rechtswissenschaftler fügen noch die "leichteste Fahrlässigkeit" und ähnliche Zwischen- und Sonderformen hinzu.
Die näheren Tatumstände hier zu erörtern verbietet sich - es würden dabei zuviele Tabus verletzt werden, allzuviele "die Krise" kriegen.
Deswegen muß ich etwas tun, was ich eigentlich nur ungerne tue: apodiktisch "festzustellen": die Frage nach Schuld und Verantwortung ist eindeutig geklärt, der Daumen geht nach unten. Rein juristisch ist meine Mutter zumindest strafrechtlich wohl nicht mehr zu belangen - die Taten sind mit größter Wahrscheinlichkeit verjährt. Aber das wird demnächst die Staatsanwaltschaft zu entscheiden haben.
Zivilrechtlich ... naja ... die Verfolgung erscheint mir aussichtslos, um ehrlich zu sein. Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim, und das bischen, was sie hat, wird aufgezehrt sein, noch bevor es zu einem erstinstanzlichen Urteil kommen kann - bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge. Aber auch darüber werden höchstwahrscheinlich andere Stellen zu entscheiden haben.
Ich kann damit leben - sowohl mit der strafrechtlichen Verjährung, als auch der Zivilrechtlichen Aussichtslosigkeit. Sollte - wieder Erwarten - eine Strafverfolgung beginnen, Ermittlungen ernstlich aufgenommen werden: das kann der Tod meiner Mutter sein - ihre "große Lebenslüge", daß "doch alles noch gutgegangen" sei, bricht dann nämlich höchstwahrscheinlich zusammen. Das weiß ich und nehme ich in Kauf. Es ist mir keineswegs egal - ich billige ihn, so er denn Eintritt, denn: es ist die Tat meiner Mutter selbst, die sich sodann gegen sie richtet.
Mir sind die Denkschulen bekannt, die das Verzeihen gegenüber dem Täter für sinnvoll halten. Mir sind aber auch andere bekannt, die das zumindest in solchen Fällen für nicht sinnvoll halten. Mein Therapeut hält nichts davon - es ist ganz einfach: es gibt Punkte oder Grenzlinien, hinter denen es ein Verzeihen allenfalls nach vollzogener Rache geben kann.
"Ein großer Dichter darf es sich gestatten, schwer verpönte psychologische Wahrheiten wenigstens scherzend zum Ausdruck zu bringen. So gesteht H. Heine: Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, lässt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt - ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden." (Heine, Gedanken und Einfälle)" - Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Fn 15 zu Kapitel V, S. 65 meiner Ausgabe vom marix-.Verlag, Wiesbaden, 2010.
Besser kann man es wohl kaum ausdrücken, und da ich kein großer Dichter bin, will ich mich bescheiden: mir reichte eine einzige Hinrichtung vor meinem Fenster, wobei ich eine Enthauptung mit dem Schwert oder Handbeil dem Erhängen vorziehen würde - aber das ist Geschmackssache.
Rache ist ein menschliches Grundbedürfnis. Schon Nietzsche hat zurecht darauf hingewiesen, daß "gerecht" klingt wie: "gerächt". Das ist auch im sozialen Sinne notwendig, weil nichts hält andere von destruktivem Verhalten, zu dem sie möglicherweise neigen, besser ab, als die Furcht vor der Rache. Strafverfolgungsbehörden, Gerichte, Justizvollzugsanstalten usw. sind nichts anders als: professionelle Rächer. Und "das Recht" ist insofern eine ebenso sinnvolle Erfindung, die dazu dient Unschuldige vor einer Rache zu schützen, die sie nicht verdient haben. Nicht umsonst bleiben Gesellschaften, in denen sich die "Blutrache" bis heute gehalten hat, ganz erheblich hinter ihren Möglichkeiten zurück.
Dementsprechend ist es auch sinnvoll, daß ich meine Rachegelüste darauf beschränke, diesen professionellen Apparat in Ganz zu setzen, und das Ergebnis seiner Aktenwälzerei hinzunehmen willens bin - egal, was "hinten rauskommt".
Mir ist auch bekannt, daß die Verzeihung von erlittenen Untaten von anderen in hohem Maße sinnvoll ist - indivduell und sozial. Ich glaube, daß der Mensch dies im Rahmen seiner "Hominisation" von den Caniden gelernt hat - den Wölfen, die im Laufe dieses Prozesses ebenso und gleichzeitig zum Hund geworden sind. Caniden sind insofern weitaus eher zur Verzeihung gegenüber ihren Art- und insbesondere den Rudelgenossen bereit, als etwa Primaten, die weitaus zänkischer sind. Der Schädiger, dem Verzeihung gewährt wird, fühlt sich nun seinerseits doppelt schuldig, befleissigt sich in Wohlwollen, das der Geschädigte sodann geniessen kann. Wem man verziehen hat, kann zum besten Freund werden.
Indessen hat dieser Mechanismus seine Grenzen. Nämlich dort, wo der Schaden derart massiv, die Schuld des Täter derart groß ist, daß eine "Verzeihung" ein Lippenbekenntnis bliebe, das zudem einer Selbstverleugnung des Geschädigten gleichkäme. Wo nicht nur die Gesundheit schwerst geschädigt worden ist, sondern die Existenz, das ganze Leben ruiniert worden sind, ist für Verzeihung kein Raum. Mit 25 hätte ich wohl noch verzeihen können, da lag das Leben noch vor mir - mit fast 50 indessen, wo ein Vierteljahrhundert Arbeit und Anstrengungen sich in ein Insolvenzverfahren aufgelöst haben, und ich bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge erst dann wieder halbwegs erwerbsfähig werde, wenn andere in Rente gehen, ich somit für den Lebensrest zur Armut verurteilt bin - nene, iss nicht. Etwas anders kann - meiner Auffassung nach - nur dann gelten, wenn man Werte wie die christliche Ethik soweit internalisiert hat, daß man "höhere" Vorteile von einer solchen Verzeihung erwarten kann. Diese können alleine schon darin liegen, daß diese Verzeihung sodann von anderen als dem Schädiger als "seelische Großtat" des Geschädigten anerkannt, belobigt und belohnt wird. Über Vorteile im Transzendenten - einer himmlischen Gerechtigkeit etwa - kann man nicht ernsthaft diskutieren. Man kann nur ans sie glauben, oder nicht. Ich tue es nicht, und mit Wertesystemen wie dem Christentum und ähnlichem mehr fühle ich mich nicht verbunden, dem nicht "verpflichtet".