Eine neue Geschichte von mir
DER TAG, AN DEM DIE DUNKELHEIT VERSCHWANDVielleicht möge es dem einen oder anderen ein wenig bekannt vorkommen, ich weiß es nicht. Aber es gibt nun mal Dinge im Leben, die nicht ausgesprochen werden wollen. Die Gründe dafür sind recht oft nicht einmal bekannt und lagern irgendwo im Verborgenen. Und so kommt es im Leben immer wieder zu Situationen, in denen einem etwas fasziniert, es aber dann ganz schnell wieder verwirft. Aus unterschiedlichem Anlass. Mal ist es einfach nur Scham, die in einem entsteht, nicht selten werden gewisse Umstände einfach als unnormal gesehen. Und wer will schon unnormal sein?
Meist muss schon etwas unvorhergesehenes passieren, dass man dennoch zu seinem Glück gezwungen wird. Ja, gezwungen. Bisher genoss ich immer mein Leben, wie ich es zu lieben glaubte. Ich fühlte mich frei und ausgelassen. Auch hatte ich keine feste Partnerin. Klar, hin und wieder gab es gewisse Beziehung. Aber irgendwie hatte es nie so richtig gepasst gehabt. Womöglich hatte ich auch nie so richtig das Bedürfnis, nach der perfekten Partnerschaft zu suchen. Vielmehr genoss ich meine Freiheit und versuchte, das auszuleben, was mir gerade so in den Sinn kam. So wie heute, als ich vor hatte, mit ein Paar Freunden an diesem herrlichen Samstagmittag ins Stadion zu gehen, Spaß zu haben und nebenbei das eine oder auch andere Bierchen zu trinken.
Bevor es jedoch dazu kommen sollte, hatte ich noch etwas zu erledigen. Ich hatte einer guten Freundin versprochen, kurz bei ihr reinzuschauen, um einen defekten Lichtschalter auszuwechseln. Nun, lange werde ich dafür bestimmt nicht brauchen, so sicher ich mir war. Ich musste es jetzt aber endlich mal tun, hatte ich es ihr doch schon vor Wochen versprochen gehabt und es permanent hinaus gezögert. Und enttäuschen wollte ich sie schon rein gar nicht, schließlich kennen wir uns seit einer Ewigkeit. Wir waren sehr gut befreundet, aber nie kam einer von uns beiden jemals auf den Gedanken, sich mehr zu wünschen. Zwar mochte ich sie sehr, dabei wollte ich es aber auch stets belassen. Auch hatte ich nicht gerade die Lust, ständig irgendwelche nervenden Sprüche meiner Freunde anhören zu müssen. Aussagen wie zum Beispiel: "Na, biste wieder mit Deiner Dicken auf Achse?" setzten mir einfach zu sehr zu. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben und mein Leben genießen, nichts weiter.
Dennoch mochte ich sie außerordentlich, weil sie ganz einfach ein toller und herzenswarmer Mensch ist. Ich hatte auch nie das Bedürfnis, etwas mit ihr zu erleben, was in eine sexuelle Richtung geht. Dafür war sie mir einfach zu wertvoll. Nicht dass ich mir nicht bereits Gedanken gemacht hätte, wie es in dieser Hinsicht wohl mit ihr wäre. Aber ich verwarf dies wie so vieles dann doch recht schnell. Gut, sie ist im Grunde sehr hübsch und hat auch eine gewisse Ausstrahlung, die ganz bestimmte innere Wärme erzeugt. Aber sie auch sehr korpulent, ja eigentlich schon recht dick. Was mir aber keineswegs etwas ausmachen würde. Aber bevorzugte ich doch eigentlich eher schlanke Frauen. Warum auch immer. So richtig glücklich wurde ich mit diesen zwar bisher auch nicht gerade, darüber machte ich mir allerdings weniger Gedanken.
"Da bist Du ja endlich. Ehrlich gesagt hatte ich gar nicht mehr mit Dir gerechnet." so lauteten Worte, als sie mir die Tür öffnete. Ich brummelte ein wenig leise vor mich hin und sagte besser nichts. War es mir doch schon etwas peinlich, dass ich sie so lange habe warten lassen. "Na, bist wohl heute schlecht gelaunt?" Na toll, dachte ich, die ist ja heute gut drauf. "Jaaa ... es tut mir ja leid ..." - "Es muss Dir nicht leid tun. Ich bin es leid, dass ich jemanden wie Dich für so etwas bitten muss. Sei doch mal ehrlich, es ist immer dasselbe Drama mit Dir. Seit Wochen stehe ich in der Küche ohne Licht und irgendwie kann ich mich kaum auf Dich verlassen." Meine Güte, dachte ich mir. So stinkig und resolut hatte ich sie schon lange nicht mehr erlebt. Klar, wir hatten immer wieder mal Meinungsverschiedenheiten. Mit denen wir uns aber stets ordentlich auseinander setzten. Aber heute? Oh Mann. Das kann ja was werden ...
"Ich hoffe mal, dass Du zügig damit fertig wirst. Schließlich musst Du noch was gescheites essen, bevor Du wieder von dannen ziehst und Dich amüsierst." Ich muss zugeben, dass ich jetzt doch etwas angefressen war. Mit zunehmenden Wachstum, wenn das jetzt so weiter gehen solle. Aber es war wohl besser, dass ich mich beherrschte und die Ruhe bewahrte. Ich kannte sie ja schließlich. Klar, ich erzählte es ja bereits. Sie ist ein grundsätzlich total warmherziger Mensch. Aber sie zeigte sich hin und wieder auch gerissen. Was sie darüber hinaus mit Sicherheit prägt, ist dass sie fast schon extrem nachtragend ist. Wenn man es sich mal so richtig mit ihr verscherzt, dann könnte die Freundschaft durchaus dem Ende entgegen laufen. Also hielt ich mich zu meinem eigenen Interesse zurück und machte mich stattdessen besser umgehend an die Arbeit.
"Was ist das denn für ein dämlicher Schalter? Vor allem, welcher Idiot hat den damals eingesetzt?" fluchte ich. Bevor ich weiter schimpfen konnte, kam prompt der Konter. "Naaaa, klappts oder so wie immer?" amüsierte sie sich, während im gleichen Moment ein deutliches "Bing" auf meinem Handy ertönt. "Aaah, die Herrschaften erwarten Dich wohl bereits. Fragen sich sicherlich, was Du denn die ganze Zeit treibst", setzte sie noch einen obendrauf. Ich dagegen ließ die Nachricht lieber außer Acht, bevor sie sich noch weiter über mich lustig machte. Denn was ich keineswegs wollte, ist dass mir jetzt dieser Tag versaut wird. Als ich nach mehreren Versuchen das blöde Teil endlich aus der Wand bekam, tänzelte sie sich von hinten an mich heran, legte ihre Arme fast schon provokant zärtlich um mich herum, schmiegte sich eng an mich und flüsterte mir ins Ohr: "Kleiner, vielleicht bist Du ja gerade der Dämliche, der Idiot von dem Du so liebevoll sprichst. Wer weiß es schon ...?"
Ich konnte es noch nie ausstehen, wenn Sie mich "Kleiner" nannte. Damit brachte sie mich nicht selten auf die Palme. Und wenn dann stets noch die Anmerkung kam, sie sei ja schließlich zwei Jahre älter und hätte somit doch viel mehr Erfahrung als ich. Ja, sie besaß diese Kunst, immer noch einen weiteren draufzupacken. Auch heute wieder. Und wenn sie so drauf ist, dann erscheint sie unberechenbar. Eigentlich muss ich gestehen, dass ich ihr gegenüber kaum gewachsen bin, wenn sie sich mir gegenüber derart verhält. Manchmal lasse ich es einfach über mich ergehen und hinterher weiß ich nicht mal mehr, warum. "Ich glaube, ich lasse Dich jetzt doch mal besser basteln." und ließ von mir ab. So tänzelte sie spitzbübisch in Richtung Esszimmer, um den Tisch für mich zu decken und trällerte dabei mit melodischer Stimme: "Jugend forscht ... nennt man das wohl (lacht). Na, vielleicht wird's ja doch noch was ...", kam der knochentrockene Satz hinterher. Auch wenn sie nur mit mir spielte, so wurmte es mich immer wieder. Aber ich nahm es immer wieder in Kauf. Damit konnte ich leicht umgehen. Probleme bekomme ich erst dann, wenn sie sich sehr emotional zeigt. Dann weiß ich genau, dass nicht nur der Busch sondern der ganze Wald drumherum zu niederbrennen droht.
Als ich es dann wider aller Erwartungen doch endlich schaffte, den neuen Schalter einzubauen, waren meine Gedanken schon längst woanders. Eigentlich hätte ich bereits in einer halben Stunde zum vereinbarten Treffpunkt erscheinen sollen. Dann aber fiel mir ein, dass sie mir irgendetwas von einem Essen erzählt hatte. Ich hatte es fast schon wieder vergessen, hatte es quasi vom Schirm weggewischt gehabt. Was mir jetzt ja mal gar nicht passte. Weder in die eine noch in die andere Richtung, natürlich nicht. Ich packte demnach zügig das Werkzeug in die Kiste und legte eine gespielte Hektik an den Tag. Aber nein, nichts wars. Als hätte sie meine Gedanken schon im Vorneherein gelesen gehabt, so kam dann auch prompt die Ansage: "Du brauchst mir gar nichts vorzuspielen, mein Kleiner. Du hast Deine Arbeit hier getan und bevor Du wieder gehst, ist Du gefälligst das, was ich Dir zubereitet habe. In Ordnung?" Ich erschrak ein wenig, hatte sie doch plötzlich einen für ihre Verhältnisse ziemlich strengen Ton in den Ring geworfen. "So wie ich Dich einschätze, futterst Du doch nachher eh wieder diese widerliche Stadionbratwurst. Kippst Dir zudem ordentlich die Birne voll, anstatt Du endlich mal etwas vernünftiges zu Dir nimmst." kam umgehend hinterher, bevor ich überhaupt einigermaßen reagieren konnte.
Sie seufzte, einige Sekunden lang und zeigte sich wieder wesentlich moderater in ihrem Verhalten. "Okay, vielleicht habe ich es jetzt etwas übertrieben. Aber Du weißt doch selbst ... ich will doch nur, dass es Dir gut geht. Also tue nicht mir sondern allein Dir den Gefallen und iss bei mir wenigstens noch etwas Gescheites, bevor Du wieder gehst." Wir schauten uns eine Weile an und kamen beide wieder auf ein Level, welches von der Empfindung her um einige Etagen niedriger erschien. "Ich habe Dir einen wirklich leckeren Salat gemacht, den musst Du probieren. Schließlich wäre es ja nicht so ganz verkehrt, wenn Du Dich hin und wieder wenigstens abwechselnd auch mal etwas gesünder ernährst. Du kannst Dich ja schon mal an den Tisch setzen, die entscheidende Zutat fehlt noch, ich muss sie frisch zubereiten."
"Nimm schon mal Platz, ich bin gleich wieder da ..." waren ihre Worte, als sie aus dem Esszimmer Richtung Küche verschwand. Es ist ja doch letztendlich immer wieder rührend, wie sie sich um einen kümmert. Ich schaute ihr noch kurz hinterher, als sie recht schnell verschwand. Also blieb mir gerade noch die kurze Zeit, um den Jungs mitzuteilen, dass es mit dem Sammeltreffpunkt aus meiner Sicht nichts wird und ich direkt ins Stadion käme. Es dauerten ein Paar Minuten, als die ersten blöden Kommentare herüber kamen. Diese interessierten mich allerdings in diesem Augenblick wenig, ja kaum. Nach kurzem Überlegen eigentlich gar nicht. Vielmehr stellte ich mir die Frage, warum sie mich nun so lange warten ließ. Ich saß hier am Tisch, einen richtig leckeren Salatteller mit allen möglichen Zutaten vor mir, allerdings trocken. Ohne Dressing. So konnte ich ihn doch nicht essen?
Was ist das denn für eine Zutat, die solange mit ihrer Zubereitung braucht, überlegte ich. Es musste sich ja wohl um das Dressing handeln. Frisch muss es sein, sagte sie ja. Womöglich gibt sie sich gerade jetzt besonders Mühe, um es bestmöglich zu servieren. So kenne ich sie schließlich ja eigentlich auch. Weswegen ich noch eine Weile ausharrte. Nach einigen Minuten wurde ich allerdings unruhig und fragte mich, was denn jetzt sei. Ich begab mich in die Küche und sah ... nichts. Einfach nichts. Weder sie geschweige etwas, was ich über den Salat gießen könnte. Ich begab mich durch die andere Tür der Küche Richtung Flur, um sie zu suchen. Es hätte ja auch etwas passiert sein können. Ich machte mir Gedanken. "Ulrike?" Keine Antwort. "Ulrieeeeke?". Ich suchte alles ab, öffnete sogar die Tür zum Kellergang. "Ulliiiiiiiii ..............." Kein Lebenszeichen. Es kam bestimmt schon sehr lange nicht mehr vor, dass ich dermaßen verunsichert war. Sie war irgendwie nicht mehr da, so glaubte ich. Wobei .....? Ins Badezimmer habe ich jetzt ... natürlich ... nicht geschaut. Weil es nun mal Dinge gibt, die sich nicht gehören. Aber wo könnte sie denn jetzt hin verschwunden sein? Ohne mir was zu sagen? Ich konnte die Situation nicht mehr so richtig einordnen. Einfach schon deshalb, weil ich sie mit einem derartigen Verhalten nicht kannte. Mein Eindruck war, es muss ihr etwas zugestoßen sein. Irgendetwas ist passiert. Und das machte mir Sorgen. Also nahm ich die letzte Option und schritt gen Badezimmer.
Zwar klopfte ich vorsichtig an, machte aber den Fehler, in dem ich ohne Rückmeldung unmittelbar danach die Tür öffnete. Ich steckte meinen Kopf durch den schmalgehaltenen Türschlitz und ... starrte. Sie stand mitten im Badezimmer. Sie stand da, einfach so. Jedoch mit einem geöffneten Bademantel begleitet. Ich starrte sie einfach nur noch an und bekam meinen Mund nicht mehr zu. Meine Blicke wanderten von oben nach unten und wieder zurück. Ihre Brüste, ... dieser immense Busen. Niemals zuvor habe ich solche voluminösen Brüste zu sehen bekommen. Ihr runder Bauch ... ihre nackte Scham, ihre stämmigen Oberschenkel. Ja, so stand sie da, vor der Toilette und mit einem Gefäß in ihrer Hand. Ein Gefäß, welches die Ähnlichkeit einer Sauciere besaß. Mir trieb die Schamesröte ins Gesicht, ich konnte förmlich fühlen, wie rot ich wurde. Sie dagegen fauchte mich mit weit aufgerissenen Augen an: "Hallo, geht's noch? Sag mal, bist Du bescheuert? Was fällt Dir eigentlich ein? Du gehst gefälligst sofort auf Deinen Platz zurück!"
Zurück am Esstisch hielt ich einfach nur noch meine Hände vor meine Augen. Ich schämte mich dermaßen. Meine Gedanken kreisten. Wie könnte ich mich jetzt bei ihr entschuldigen? Würde sie mich jetzt aus ihrer Wohnung werfen? Würde sie überhaupt noch Wert auf unsere Freundschaft legen? Ich spüre, wie meine Augen sehr feucht wurden und schämte mich immer mehr.
Es gab immer wieder Augenblicke in meinem Leben, in denen ich Scham empfunden hatte. Aber jetzt? Irgendetwas war anders. Ich hatte mich noch nie vor ihr geschämt gehabt, zumindest konnte ich mich in keiner Weise daran erinnern, dass dies jemals der Fall gewesen sein soll. Wobei ...? Doch, ein einziges Mal war dies passiert. Meine Güte, da waren wir aber noch sehr jung, eigentlich noch klein. Ich war gerade zehn Jahre jung, sie zwei Jahre älter als ich. Wir spielten mit anderen Kindern zusammen Fangen, draußen im Freien. Ich erinnere mich noch recht genau an diese schöne alte Zeit, die weder Handys noch interaktive soziale Netzwerke kannte. Wir kamen aus der Schule, bekamen unser Mittagessen und erledigten unsere Hausaufgaben entweder recht schnell oder gar nicht. Einfach, um schnellstmöglich raus zu gehen. Wir waren an diesem Nachmittag vielleicht zu sechst oder zu acht. Vielleicht waren es auch mehr, so genau weiß ich es nicht mehr. Was mir nun aber allmählich wieder einfällt, sie verschwand einfach so mitten im Spiel und ich wusste nicht warum. Ich mochte sie damals eigentlich schon sehr. Und dies, obwohl sie seinerzeit schon recht pummelig war und mir deswegen immer wieder unsägliche Sprüche der anderen anhören musste. Aber sie war einfach total lieb und irgendwie ganz anders als die anderen Mädchen aus unserer Wohngegend. Zwar war sie sehr zurückhaltend, aber wenn man mit ihr befreundet war, kümmerte sie sich regelrecht um einen. Eigentlich bewunderte ich sie sogar, aber ich hatte es nie geschafft, mir dies einzugestehen. Lieber war ich immer darauf aus, mit all den anderen mithalten zu können. Ich selbst war doch auch nicht gerade der schönste Junge, ganz im Gegenteil. Ich war recht schmächtig und körperlich in allen Belangen unterlegen.
Je länger ich weiter darüber sinniere, um so klarer wurden meine Erinnerungen. Ich empfand etwas, was ich heute als Traurigkeit bezeichnen würde. Weil sie eben einfach mal so eben verschwand und ich nicht wusste, warum? Ich starrte nach wie vor auf mein Menü, welches sie mir auf den Tisch gestellt hat und dachte weiter nach. Meine Gedanken wurden intensiver, was diese jetzt seltsamerweise genau in dieser Situation meine Erinnerungen nahezu komplett zurück holen ließen. Jaaa, jetzt weiß ich es wieder. Wir spielten gar nicht Fangen, es war Verstecken. Meine Güte, spielt man das heutzutage in diesem Alter überhaupt noch? Wie dem auch sei, ich muss es wohl gewesen sein, der die anderen suchen sollte. Stimmt, genau so war es. Nun fällt es mir wieder ein. Wir spielten Verstecken auf einem Spielplatz, der von einem natürlichen Gelände umgeben war. Mit Wiesen, Sträuchern und Büschen, Ich suchte wohl wie wild. Auch fand ich wohl einen nach dem anderen und spürte doch eine gewisse Enttäuschung, weil ich eigentlich auf Anhieb sie erwischen wollte. Meine Erinnerung wird immer deutlicher, war sie doch schon verschwunden gewesen, als ich mit dem Suchen dran gekommen war? Ich suchte und suchte weiter. Und irgendwann fand ich sie dann tatsächlich, abseits des Spielplatzes hinter einem angrenzendem Gebüsch.
Im ersten Moment war ich erleichtert, war sie ja wirklich noch da. Sie mochte mich allerdings nicht bemerkt zu haben, sie war notbedürftig mit etwas anderem beschäftigt. Ich war wohl ein wenig erschrocken, als ich sie erblickte und bewegte mich leise wieder zurück. Ich wollte erst wieder zu den Anderen hin laufen, hielt jedoch aus irgendwelchen, seinerzeit nicht nachvollziehbaren Gründen inne. So drehte ich mich nochmals um, mit noch leiseren Schritten. Ich betrachtete sie mir ... heimlich, dort, zwischen den Sträuchern hockend. Sie saß dort einfach so, das Kleid hoch- und das Unterhöschen bis auf ihre Knöchel heruntergezogen. Sie musste einfach mal Pipi machen, weswegen sie plötzlich verschwunden war. Der Anblick aber ... hatte ich doch so etwas nie zuvor gesehen gehabt. Und ja, es war genau dieser Moment, worüber ich mich ihr gegenüber schämte. Selbst dann, wenn sie es gar nicht mitbekam, dass ich sie dabei beobachtet hatte. Ich beobachtete sie noch eine kleine Weile ganz heimlich. Bis sie zu Ende kam und ihr Höschen wieder hochzog. Während sie ihr Kleid - es war über die gesamte Länge mit bunten Blümchen bemustert und sie trug es unendlich gerne - richtete, starrte ich sie einfach nur an. Ja, ich starrte sie einfach nur noch an und ich wusste einfach nicht, warum ich dies tat.
Wir hatten danach nie darüber geredet, bis heute nicht. Je länger wir uns kannten, umso weniger kam es mir auch in den Sinn, sie jemals in irgendeiner Form darauf anzusprechen. Ich selbst hatte es ja verdrängt gehabt, in all den weiteren Jahren. Es war mir einfach zu peinlich und hatte das Ganze einfach recht schnell geistig in irgendeine Ablage gezwungen, die so tief wie nur möglich ihr Dasein zu sein hat. Möglichst befristet, mit Verfallsdatum. Sie wusste schließlich nichts davon und ich wollte mich im Laufe meiner Pubertät endgültig von diesem Erlebnis verabschieden. Ich wollte wie alle anderen Jungs aus meiner Klasse und meiner Umgebung einfach nur ein "normales" Mädchen. Nein, ich wollte einfach nicht unnormal sein. Auf gar keinem Fall.
Aber warum zum Geier kommt mir jetzt eben diese Erinnerung wieder aus meinem Gedächtnis hervor? Gerade jetzt? Man, das hat doch gar nichts damit zu tun, was damals gewesen war. Hätte ich einfach sitzen bleiben sollen, bis sie mir das Dressing bringt? Womöglich wäre es besser gewesen, vielleicht aber auch nicht. Ich wusste es nicht. Und es fiel mir sichtlich schwer, die Situation einzuordnen, woraufhin sich meine Scham ihr gegenüber auch nicht so schnell legen sollte. Es war mir schlicht unangenehm und ich wusste noch nicht einmal, warum? Waren wir doch beide nahezu unser ganzes Leben lang so vertraut und eben auf eine gewisse Weise verbunden. Wir erzählten uns doch alles, wir vertrauten uns alles an.
Alles? Ja ... oder ... ich weiß nicht. Vielleicht ... na ja, vielleicht nicht alles, Meine Güte, ich wusste es ja selbst nicht. Ich wusste in diesem Moment nicht, was mit mir los war. Außer dass ich mich einfach nur schämte. Und dies, nur weil ich nach ihr sehen wollte? Weil vielleicht etwas passiert gewesen sein könnte? Und nein, ich wusste nicht so ganz, was mit mir los war und konnte meine Gefühle einfach nicht einordnen. Nicht nur für mich selbst, ihr gegenüber schon mal gar nicht. Ich schämte mich ganz einfach und wehrte mich nicht einmal dagegen, interessanterweise. Ich ließ es einfach zu, auch wenn ich mir nicht im Klaren war, warum. Und mir wurde warm dabei, sehr warm. Aber irgendwie nicht unangenehm warm. Und ja, ich wiederhole mich. Ich wusste partout nicht warum geschweige was mit mir, besser gesagt in mir los war.
"Du weißt doch ganz genau, dass ich ziemlich viel um die Ohren habe. Im Büro ist momentan unendlich viel zu tun. Zudem habe ich heute nicht allzu viel getrunken. Mein Hausarzt sagt mir immer wieder, ich müsse mehr trinken. Aus gesundheitlichen Gründen, Du verstehst?" Mit diesen Worten nahm sie mit nun geschlossenem Bademantel neben mir Platz, mit der Sauciere in der Rechten, welche sie auffällig behutsam über meinen Salatteller auszugießen begann. Dabei erwähnte sie mit nun leiserer Stimme: "Und wenn ich nicht ausreichend Flüssigkeit zu mir nehme, ................". Sie leerte das Gefäß komplett bis auf den letzten Tropfen über meine Mahlzeit, ich lauschte ihren Worten, welche noch kommen sollten, die umgehend auch kamen. "... dann kann es halt passieren, dass gewisse Dinge etwas länger brauchen." Sie stellte die Sauciere auf ihre stets behutsame Weise auf der Mitte des Tischs ab, schaute mir tief in die Augen und flüsterte: "Du sagst doch selbst so oft, gut Ding will Weile haben." Trotz aller Scham, die ich nach wie vor verspürte, erwiderte ich ihre Worte dennoch mit einem Lächeln. Ich war am überlegen, ob ich mich nun bei ihr irgendwie entschuldigen sollte. Auch wenn ich nicht mal genau wusste, warum überhaupt. Geschweige für was.
Bevor ich jedoch überhaupt etwas über meine Lippen bekommen konnte, stand sie auf, legte ihren Hand an meinen Hinterkopf und sagte mir einem leichten, dennoch recht deutlich bestimmenden Unterton: "Du solltest so langsam zu essen beginnen. Wolltest Du nicht mit Deinen Freunden unbedingt zum Fußballspiel? Es ist ein besonderes Salatgericht, welches mit frisch zubereitendem Dressing am allerbesten schmeckt. Ich hoffe, es mundet Dir." Sie streichelt für einige Sekunden mein Haar und, woraufhin sie mit wieder leiseren Tönen nahezu flüstert. "Ach was ... ich bin mir sicher, dass es Dir sehr schmecken wird ... so oder so." Sie beugte sich über mich, mit ihren Lippen an mein Ohr ... und sagte sehr leise: "Weil ich es bin, der Dir diese leckere Mahlzeit zubereitet hat. Nur ich ... auf eine Weise, wie auch nur ich es kann, niemand anderes. Niemand kennt dieses Rezept und auch niemand anderer wird jemals in diesen Genuss kommen, glaube mir. Genauso darfst Du mir glauben, dass Du nie jemals woanders genau dieses Gericht zu Dir nehmen würdest, gar könntest. Es ist schier unmöglich, ob Du es Dir vorstellen magst oder auch nicht. Weil es einzig von mir ist, mein geheimes Rezept, Nenne es hausgemacht oder auch anders, wie Du willst. Doch selbst wenn Du es woanders probieren würdest, es wäre mitnichten das Original. Weil es eben nicht von mir wäre."
Noch bevor ich all diese ihre Worte aufnehmen und überhaupt auch nur ein wenig begreifen konnte, erhob sie sich abrupt und lief mit sanften Schritten Richtung Küche, begleitend mit den Worten: "Ich schneide Dir noch schnell ein Paar Ciabattas, so dass sich in Deinem Magen alles besser bindet." Mittendrin legte Sie ihr Haupt ein wenig zur Seite, ohne mich dabei jedoch direkt anzuschauen und fügte für mich ungewohnt süffisant hinzu: "Das übrige Dressing kannst Du gerne mit dem Brot aufsaugen und zu Dir nehmen. Ich wünsche nicht, dass auch nur die geringste Neige übrig bleibt." Und wieder wusste ich nicht, wie ich ihre Worte einordnen geschweige deuten sollte. Einfach schon deshalb, weil ich sie so nicht kannte. Klar, sie hatte schon immer eine gewisse schnippische Art, welche sie seit ihrer Kindheit mit sich herum trägt. Aber irgendwie war nun alles anders. Ich wusste aber immer noch nicht, warum. Warum ich es plötzlich ganz anders fühlte als all die vielen Jahre davor. Noch vor wenigen Minuten war ich im Glauben, dass sich meine Scham zumindest ein wenig legen würde. Mitnichten war dies der Fall, vielmehr steigerte diese sich sogar noch in einer Intensität, wie ich es niemals zuvor empfunden hatte. Zum einen war es einfach diese fast schon beklemmende Situation einer jahrelangen Freundin gegenüber, die ich plötzlich zum allerersten Mal empfand. Und zum anderen konnte ich einfach nicht begreifen, was an dieser Mahlzeit, welche sie mir darreichte, jetzt so besonders sein könnte. Aber sie betonte ja zuvor, dass sie mir etwas Gutes tun wolle. Das kam mir sehr schnell wieder in den Sinn.
Weitergehend überlegte ich jetzt, was denn jetzt eigentlich das Problem ist. Gibt es denn überhaupt eines? Meine Gedanken kreisten hin und her und bevor ich ansatzweise versucht hatte, einen Sinn hinter all dem zu entdecken, nahm ich besser die Gabel in die Hand und begann, die wohl explizit für mich zubereitete Mahlzeit zu mir zu nehmen. Zwar zögerte ich einen klitzekleinen Moment, aber ich tat es. Nicht nur, weil ich Hunger verspürte sondern insbesondere, weil mir im innersten allmählich klar wurde, dass ich es tun musste. Nicht nur für mich sondern vor allem für sie. Aber nein, nicht aus Zwang, ganz im Gegenteil. Ich verspürte allmählich ein Wohlwollen, ihr persönliches Rezept zu probieren. Innerlich hatte ich vielleicht ein wenig Bedenken. Was würde passieren, wenn es mir nicht schmecken sollte? Wie sollte ich dann reagieren? Ich könnte sie in dieser Situation unmöglich enttäuschen. Meine Güte, wie würde vor allem sie reagieren? Meine Gedanken kreisten ums Neue herum und ich sinnierte, dass ich immer den Hallodri abgab, während sie sich ja immer zurückhaltend, ja eigentlich fast schüchtern gab. Zwar zurückhaltend aber aufgrund ihrer nicht abzustreitenden Intelligenz wohlbewusst. Nein, dieses Mal musste ich es tun, auf sie zu hören. Es war nach über vierzig Jahren wahrhaft das allererste Mal der Fall, dass ich denke, das tun zu müssen, was sie von mir ... ja was eigentlich? ... von mir verlangt? Mit diesem Gedanken kam auf ein neues das Schamgefühl in mir hoch und mir wurde allmählich klar, dass ich keine andere Wahl habe.
Schließlich wollte ich mich ja auch keineswegs verspäten, mit meinen Kumpels zu Fußball gehen. Dies fiel mir gottseidank gerade noch so ein. Wobei mir allerdings in diesem Moment kaum bewusst war, dass ich mich mit diesem meinem ursprünglichen Vorhaben nur versuchen wollte, mich von allem anderen abzulenken. Nun, ein klein wenig freute ich mich ja immer noch auf den kommenden Nachmittag, mengte den Salat noch mal ein wenig durch und führte den ersten Gabelstrich zu Munde. Ich nahm noch eine Zweite hinzu und eine Dritte. Einerseits, weil ich mich beeilen wollte. Aber andererseits ... ? Irgendwie schmeckte dieses Salatgericht anders als wie ich es gewohnt war. Für einen kurzen Moment hielt ich inne und überlegte. Ich aß weiter, ließ die grünen Blätter, getränkt mir ihrem so angepriesenem Dressing auf der Zunge und im Gaumen zergehen. Irgendwie schmeckte es merkwürdig. Merkwürdig? Nein, das nicht mal. Es war halt irgendwie nicht so, wie man einen Salat eben zubereiten geschweige essen sollte. Dachte ich. Weder schmeckte ich Essig noch Öl heraus. Und dennoch kam mir der Geschmack aber auch der Duft an sich irgendwie bekannt vor. Ich aß weiter und nachdem ich den Teller zur Hälfte zu mir genommen hatte, fiel es mir ein. Zumindest glaubte ich zu wissen, vom Geschmack her ähnelte es irgendwie diesem Eistee, welchen sie mir vor etwa zwei Wochen draußen auf ihrem Balkon serviert hatte. Wir hatten in der sonnigen Hitze da draußen zwei oder drei Stunden verweilt und ich bekam von ihr dieses - wie sie betonte - spezielle Getränk, gekühlt mit Eiswürfeln. Zumindest dachte ich, dass es Eistee war. Ich verwarf den Vergleich umgehend wieder. Eistee im Salat? Ach was, sagte ich zu mir selbst: das bildest Du Dir nur ein.
"Na, schmeckt es Dir?", fragte sie mich forsch, als sie wieder durch die Tür ins Esszimmer schritt. Zwischenzeitlich hatte sie sich etwas frisches angezogen. Sie trug nun ein Kleid, welches knalleng an ihrem gesamten, ... nun, im Grunde eigentlich sehr schönen Körper angelegt war. All ihre Pfunde, sofern ich das überhaupt so nennen dürfte, kamen zur Geltung. Allerdings war es nicht nur ihre Figur, nein. Irgendwie war etwas an diesem Kleid, was mich grübeln ließ. Ich versuchte nachzudenken, aber nein. ich kam nicht drauf. Den Salat hatte ich bereits zu mir genommen und mittlerweile rieb ich das restliche Dressing mit dem Brot aus dem Teller. "Hmm, ja ... eigentlich ganz gut." - "Eigentlich?" sprudelte es förmlich und mit hochgezogenen Augenbrauen aus ihr heraus. "Also, mein Blickwinkel sagt mir da was anderes, denke ich mal. Na, wie dem auch sei ... Sie stand auf und begab sich wieder in ihre Küche. Und ähnlich wie vorhin legte sie wieder ihren Kopf leicht zur Seite und ließ verlauten: "Ach, zur Strafe ... wegen vorhin ... bekommst Du jetzt noch einen schönen Nachtisch, der ebenso explizit von mir ist." - "Strafe? Nachtisch?" Ich verstand nun gar nichts mehr. "Ein Nachtisch als Strafe?" An ihrem Kühlschrank werkelnd empfing ich ihre Worte: "Ach Kleiner, den Nachtisch hättest Du so oder so bekommen. Was aber die Strafe betrifft ... tjaaaaa ..." Wieder zurück im Esszimmer: "Als Strafe wirst Du wohl nur noch die zweite Halbzeit erleben." Mit polemischen Unterton: "Wenn überhaupt ..." Sie setzte sich wieder zu mir an den Tisch und hielt ein Behältnis in ihrer Hand. "Aber so wie ich Dich kenne, scheint Dir die dritte Halbzeit mit Deinen Jungs sowieso am wichtigsten zu sein. Also ist durchaus noch genug Zeit vorhanden." Es war so eine Hülle, mit dem man selbstgemachtes Eis am Stiel einfrieren konnte. "Kleiner, weißt Du noch ... als wir noch soooo jung waren ... es war fast jeden Samstag. Wir liefen immer zu diesem Kiosk, um uns ein Stieleis zu kaufen." Sie begann zu grinsen, dann aber leicht zu lachen. "Na ja, meistens hatte ich es von meinem Taschengeld gekauft. Du hattest ja schließlich so gut wie nix."
Meine Güte, sie schaffte es aber auch immer wieder, mich erneut schämen zu müssen. Sie ließ mich so ziemlich sämtliche Unzulänglichkeiten meinerseits regelrecht spüren. Und allmählich begann ich zu begreifen, dass sie es voll und ganz auf mich abgesehen hatte. Aber warum? Warum ausgerechnet heute? Wieso nicht schon viel früher oder auch später. Ich war immer noch weit entfernt davon, irgendetwas zu verstehen. Ich verstand ja so langsam nicht mal mich selbst mehr. Nicht dass es so wäre, als hätte ich nicht die Kraft, mich ihr zu widersetzen. Auch wenn sie noch so gerissen und schlau sei. Aber irgendwie ... ich weiß nicht. Es war einfach ein richtig komisches Gefühl, das ich in mir hatte. Ich hatte nicht nur das Gefühl, jetzt alles über mich ergehen lassen zu müssen. Nein, da war noch was anderes. Was ganz anderes. Etwas, was ich zum Teufel nicht verstehen konnte.
Sie saß da so am Esstisch und machte einen Eindruck, der mich seltsamerweise mit einem Ansatz von Gänsehaut begleitete. Sie spielte mit dem Eisformer herum, umfasste ihn immer wieder mit festem Händedruck, so dass sich das Eis danach leichter lösen könne. Sie drehte und wendete es, immer wieder. Es sah aus, als würde sie es regelrecht beobachten. "Ganz ehrlich ... ich bin gespannt, ob ...", sie seufzte kurz auf, "... und vor allem wie es Dir schmecken wird ..." Die letzten Worte kamen erneut sehr langsam und langgezogen über ihre Lippen. Als würde sie es selbst genießen. Ich konnte förmlich spüren, dass sie nicht nur mit dem Dessert sondern auch mit mir spielte.
"Soooo, da haben wir's doch." sagte die fast schon liebevoll und zog sanft das gefrorene Gut aus dem Behälter. Sie schaute es sich nochmals genau an. Verdächtigerweise zu genau. Und wieder begann sie, damit herum zu spielen. Sie drehte und wendete es auf ein Neues. Plötzlich führte sie es behutsam in Richtung ihrer Lippen. "Aaah ... ich denke, es ist mir sehr gut gelungen. Bestimmt sehr köstlich." Ihre leicht gestreckte Zunge tat so, als würde sie es probieren wollen. Doch sehr langsam führte sie es von sich weg und noch gemächlicher über den Tisch hinweg zu mir. "Du wirst begeistert sein ... hinterher." flüsterte sie. "Da bin ich mir sehr sehr sicher. Schon jetzt." Ich nahm es in die Hand und begann in voller Erwartung, es mir schmecken zu lassen. Wie ich es schon immer getan habe, so umschließe ich gefühlsmäßig das gesamte Eis mit meinen Lippen und stecke es tief in meinen Schlund. Und ebenso genussvoll ziehe ich es langsam wieder aus meinem Mund. Ich schmeckte, meine Zunge leckten meine Lippen ab. Hm, dachte ich ... recht außergewöhnlich. Beim zweiten Male war die Oberfläche schon ein wenig angetaut. Ich schaute sie dabei an, so wie sie mich auch. Sowieso, Sowieso? Ich spürte ganz einfach, dass sie auf eine Reaktion von mir wartete. Allein ihr Gesichtsausdruck, der mir ja nicht fremd war, verriet es mir.
Ich konnte es nicht abwenden, aber mein Gesicht verzog sich. Wenn auch nur leicht und bedingt. Ich schaute ihr ins Gesicht und sah, wie sie ihren Kopf leicht nach hinten beugte, mich dennoch sehr genau ansah. Ihren Mund hab geöffnet und sehr tief durchatmend. Mir war, als wäre sie in diesem Augenblick erregt. Vorsichtig leckte ich nun daran. Sie dagegen legte ihr Antlitz wieder sanft nach vorne und schaute mit intensiven Blicken auf das Eis, welches ich mit meiner Zunge von unten noch oben leckte. Ihr Mund öffnete sich immer weiter, sie atmete hörbar aus. "Was ist das? ... Ich meine, welche Geschmacksrichtung hat es? Ich glaube zwar es irgendwie zu erkennen ... hmm ... aber es schmeckt total bitter." fragte ich doch ziemlich verdutzt. Sie richtete ihren Blick ein wenig zur Seite und ließ verlauten: "Ach ... ich ..." Sie fing an, ein wenig zu stocken. Ich wollte es ja noch gefroren bekommen und die Zeit hat ein wenig gedrängt. So bin ich erst heute dazu gekommen." Sie hebt ihren Blick und fügte fast schon stolzierend an: "Ich habe es aber gleich heute früh angerichtet, gleich nach dem Aufstehen. ich war noch nicht mal im Bad, da hatte ich es schon im Eisfach." Sie drehte sie ihre Augen durch das Zimmer, schaute nach unten ... und begann, mit ihren Händen ihr Kleid glatt zu streifen. Und zwar auf eine Art, was man in pragmatischer Sichtweise Zeitlupentempo zu nennen pflegte. Sie lenkte ab. "Wie gefällt Dir eigentlich meine neues Kleid? Ich habe es diese Woche endlich bekommen." Ich leckte weiterhin an meinem, doch womöglich speziell von ihr zubereitendem Eis und lauschte ihren Worten. "Du glaubst gar nicht, wie schwer es war, genau diesen Stoff nochmals zu bekommen. Ich habe viele Jahre lang danach gesucht." Sie hielt kurz inne, während ich weiter mit meiner, irgendwie doch mittlerweile interessanten Nachspeise beschäftigt bin. Es schmeckt nach etwas, was ich zu kennen glaubte aber irgendwie dann noch nicht. Auch konnte ich gar nicht großartig darüber nachdenken, was es sein könnte. Ich war zu sehr abgelenkt in dieser Situation. Weil sie es eben immer wieder schaffte, mich in ihren Bann zu ziehen. So fühlte ich es jedenfalls.
"Du wirst Dich wohl mit Sicherheit nicht mehr daran erinnern. Ich hatte schon mal ein solches Kleid. Und ich hatte es sooo sehr geliebt gehabt." seufzte sie recht deutlich. Irgendwie wurde mir mulmig, konnte mir jedoch keinen Reim daraus machen, warum. Stattdessen saugte und leckte ich weiterhin an meinem Eis und wartete förmlich darauf, sie weiter reden zu hören. Dabei fühlte ich irgendwie eine Spannung im Raum. Aber eine ganz spezielle, mir unbekannte. Sie schaute herab auf die Tischkante: "Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie traurig und entsetzt ich damals war. Selbst wenn ich noch ein Kind gewesen bin. Vielleicht auch gerade deshalb." Ich leckte mein Eis nun deutlich intensiver, gleichzeitig wurden meine Augen ebenso größer. Warum war sie seinerzeit traurig, fragte ich mich? Wegen einem Kleid? Ich kapierte nichts. "Ich sehe schon, Du kapierst das nicht ...", während sie schon Anzeichen andeutete, aufstehen zu wollen. "Bitte ... Ulrike, bleib bitte bei mir." Ich dachte nach, und zwar recht hastig. Habe ich das eben wirklich gesagt? Ich atmete nochmal tief durch. Habe ich genau dies eben wirklich genau so gesagt?
Sie wendete sich wieder zu mir, mit sichtlich überraschtem Gesichtsausdruck. Sie schaute mich an, neigte ihr Haupt leicht schräg zur Seite, während ihre Lippen sich zusehend auseinander bewegten. Sie schien wirklich überrascht zu sein, als mir diese Worte, so unüberlegt sie auch waren, über die Lippen kamen. Oder vielleicht gerade deswegen? "Meine Mutter hatte es weggeschmissen, einfach so. Und weißt Du auch warum?", fuhr sie mit nun leicht zittriger Stimme fort "nur weil ich draußen beim Spielen da irgendwie aus Versehen eingepullert hatte." Der Rest von dem Eis, der noch übrig geblieben war, blieb mir nach diesen Worten regelrecht im Halse stecken. Ich riss meine Augen sowas von weit auf und starrte in ihre ebensolchen. ich kaute an den Überbleibseln der nicht mehr ganz gefrorenen Köstlichkeit und schluckte es herunter. Meine Lippen umklammerten den Stiel, obwohl an diesem rein gar nichts mehr von dieser leckeren Nachspeise vorhanden war. Ich begann plötzlich zu zittern und ein gewaltiger Schauer überfuhr meinen gesamten Körper. Nicht nur äußerlich, nein. Nur war mir endlich alles klar, alles bewusst. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Und ja, wieder begann ich mich, zu schämen. Aber nicht mehr so sehr wie noch vor wenigen Augenblicken. Nein, dieses Mal war es anders. Womöglich war es nicht mal Scham, die ich verspürte. Es war mir halt nur fremd, dieses Gefühl. Mir schossen Tränen in die Augen. Unendlich viele, es sollte nicht mehr aufhören.
"Vierzig Jahre. Ja ... genau vierzig Jahre ist es her", sagte sie in langgezogenen Worten. "Auf den Punkt mit dem heutigen Tag. Ich habe es nie vergessen, was damals geschehen war. Es verging kaum ein Tag in all diesen Jahren, Jahrzehnten, an dem ich nicht daran dachte. Mich daran erinnere. Mich so gerne daran erinnere. In all dieser ganzen Zeit habe ich diesen wunderschönen Moment in meinem Gedächtnis gehegt und liebevoll gepflegt." Sie hielt für einen kurzen Moment inne und Ich schaute in ihr Gesicht, in ihre Augen. Mit jeder einzelnen Sekunde immer tiefer. Ich wollte irgendwas dazu sagen, bekam jedoch kein einziges Wort über meine Lippen. Ich war einfach nur erstarrt. Stattdessen flüsterte sie: "Aber irgendwie ... ich weiß nicht ... irgendwie warst Du seit diesem Zeitpunkt nicht mehr so richtig bei mir. Nicht mehr mit mir. Dabei hatte es mich damals ... damals, als Du mich neben dem Spielplatz da im Gebüsch heimlich beobachtet hattest ... wie soll ich es beschreiben? Es war für mich einfach ein wunderschöner Anblick, so schüchtern wie Du warst, Dich so zu sehen. Dich so zu erleben. Ich war ja davor schon total in Dich verliebt. Und ja, ich hatte immer Angst davor, Dir das zu sagen. Ich war dick und Du total schmächtig. Ich schämte mich dafür, jahrelang. Viele Jahre lang. Sehr viele ..."
Sie wusste alles, tatsächlich alles. Alles, was ich selbst nahezu mein ganzes Leben lang verdrängt und fast schon vergessen hatte. Und ich schämte mich unendlich dafür. Ich begann zu weinen. Mit jedem Versuch, dies zu unterdrücken, kam nach und nach noch mehr aus mir heraus und ich weinte noch mehr. Ich schämte mich dermaßen, so sehr, dass ich kein einziges Wort mehr über meine Lippen bekam. Sie stattdessen stand plötzlich vor mir und streichelte meine Wangen. Sie streichelte mein Haar und legte mein Haupt sanft an ihrem Bauch. "Weine ruhig, es wird Dir gut tun. Lasse alles raus, es wird Deine Seele reinigen. Aber bitte ... schäme Dich nicht, keineswegs. Nun ist alles gut, glaube mir." Ich schmiegte mich fest an ihrem Bauch, seufzte einige Male. Wie von selbst legte ich meine Arme und ihre Hüfte und zog mich selbst fest an ihren Körper. "Alles ist gut und glaube mir ...", flüsterte sie, während sie mein Haar streichelte. "Bestimmt hat es einen Sinn gehabt, dass es so lange dauerte. Nun bist Du aber bei mir und ich werde Dich niemals mehr gehen lassen." Ich begann hemmungslos zu weinen. Aber nicht, weil ich mich schämte, nein. Ich verspürte eine unglaubliche Wärme in mir heraufsteigen. Eine Wärme, die derart intensiv wurde, dass ich unendliche Geborgenheit verspürte. Auch wenn ich es immer noch nicht richtig einordnen konnte, so fiel irgendwie eine immense Last von mir, die ich mein ganzes Leben lang unbewusst mir mir trug. Sie beugte sich über mich und flüsterte leise in mein Ohr: "Nun habe ich Dich so, wie ich es mir damals gewünscht habe. Genau so. Mit einem gewissen Unterschied. Du hast heute bekommen, was Du damals nur sehen durftest. Damit machst Du mich sehr glücklich."
Offenes Ende