Hier mal ein Bericht, der auch Wissenschaftler beschäftigt.
Deswegen haben viele Menschen bedenken gegenüber des Impfstoffes.
Auch Bereitschaft zur Polio-Impfung sinkt
Bei der Immunisierung gegen die früher gefürchtete Kinderlähmung gibt es Parallelen zu Corona – aber auch deutliche Unterschiede
Von Ute Strunk
MAINZ. Mehr als 242 Millionen Infektionen und fast fünf Millionen Todesfälle weltweit: So lautet die Bilanz nach mehr als anderthalb Jahren Corona-Pandemie. Ein anderes „Schreckgespenst“, das schon fast in Vergessenheit geraten ist, aber ebenfalls viele Opfer gefordert hat, ist die Poliomyelitis. An der spinalen Kinderlähmung, wie die Erkrankung auf Deutsch heißt, sind vor allem in den 1950er-Jahren Tausende Menschen erkrankt und auch gestorben, betroffen waren vor allem Kinder. Die größte Polio-Epidemie in den USA mit mehr als 57 000 Fällen gab es 1952, der Ausbruch in Deutschland im selben Jahr forderte 9 500 Gelähmte und 745 Todesopfer.
Dank der Impfung gegen Poliomyelitis ist das Virus, das die Nervenzellen befällt und zu bleibenden Lähmungen und dadurch zu Muskelschwund, zu vermindertem Knochenwachstum und Gelenkzerstörungen führen kann, heute in weiten Teilen der Welt ausgerottet.
Wird Polio mehr gefürchtet als Corona?
Im Jahr 2002 hat die WHO ganz Europa für poliofrei erklärt. Es kommt aber noch immer in einigen Regionen auf der Welt zu Neuerkrankungen und Polio kann aus Ländern wie Afghanistan oder Pakistan auch nach Deutschland wieder eingeschleppt werden. Eine möglichst hohe weltweite Immunisierungsrate über Jahre ist zwingend notwendig, um das Virus gänzlich auszurotten. Daher muss auch in Deutschland weiterhin gegen Polio geimpft werden.
Doch warum gibt es gegen die Polio-Impfung viel weniger Vorbehalte als gegen die Corona-Impfung? Laut Robert Koch-Institut (RKI) sind 92,9 Prozent der Kinder beim Schulstart gegen Polio immunisiert (Stand 2017). Wird Polio mehr gefürchtet als Corona, obwohl der Blick auf die nüchternen Zahlen zeigt, dass an Corona in kürzester Zeit weitaus mehr Menschen gestorben sind?
Man müsse die damalige Zeit der 50er-Jahre bei der Betrachtung berücksichtigen, sagt Professor Bodo Plachter, Kommissarischer Direktor des Instituts für Virologie der Universitätsmedizin Mainz: „Die Angst vor Polio war damals riesig, weil jedes Kind die Krankheit bekommen konnte und es überhaupt keine Möglichkeit gab, diese zu verhindern.“ Im Gegensatz dazu seien Kinder bei Corona kaum betroffen. „Man darf auch nicht vergessen, dass bei den Polio-Kranken schwerwiegende Schäden zurückblieben. Manche mussten in der sogenannten ‚Eisernen Lunge‘ dauerhaft beatmet werden.“ Es habe einen erheblichen öffentlichen Druck gegeben, eine entsprechende Impfung zu entwickeln. Und mit der Impfung habe man die Möglichkeit, das Virus komplett auszurotten. Im Unterschied zu Corona könne bei Polio die Herdenimmunität nämlich erreicht werden. „Corona wird sich hingegen nicht ausrotten lassen, weil sich auch Geimpfte wieder infizieren können“, so Plachter.
Bei Polio war es der sensationelle Erfolg in der Bekämpfung einer gefürchteten Krankheit, der von selbst dazu geführt hat, dass die große Mehrheit der Menschen die Impfung gewollt hat, sagt auch der Medizinhistoriker Michael Stolberg. Entwickelt wurde der Impfstoff von zwei Amerikanern. Zunächst stellte Jonas Salk 1954 einen inaktivierten Totimpfstoff her. Den wirksameren abgeschwächten Lebendimpfstoff, der seit 1960 als Schluckimpfung verabreicht wurde, entwickelte Albert Sabin. Daraufhin sank die Zahl der jährlichen Poliofälle rapide.
Ob es gegen die Schluckimpfung weniger Vorbehalte gab, weil sie auf einem Zuckerstückchen verabreicht wurde, sei dahingestellt. Tatsächlich hat sie die Nebenwirkung, dass nach der Impfung einige der zwar abgeschwächten, aber doch lebens- und vermehrungsfähigen Viren einige Zeit lang mit dem Stuhl ausgeschieden wurden. Immer wieder erkrankten daher Menschen, die mit diesen Impfviren in Kontakt kamen, an einer Impfpoliomyelitis. Aus diesem Grund haben viele poliofreie Länder – darunter auch Deutschland seit 1998 – auf den Totimpfstoff umgestellt.
Bei Vakzin gegen Covid-19 ist Wissensstand noch begrenzt
„Der Impfstoff ist sehr ausgereift, wird gut vertragen und es gibt keine Nebenwirkungen“, sagt der Virologe Plachter. Bei der Corona-Impfung gäbe es hingegen viele Bedenken, die auf dem zurzeit noch begrenzten Wissensstand beruhen.
Der Virologe weist aber auch daraufhin, dass inzwischen auch bei der Polio-Impfung die Bereitschaft, seine Kinder impfen zu lassen, deutlich abnimmt. Das zeigen Zahlen des Robert Koch-Instituts. Demnach betrug die Polio-Impfquote in den Jahren 2008 bis 2017 bundesweit rund 90 Prozent und lag damit deutlich unter der von der WHO definierten Zielmarke von 95 Prozent.
„In Deutschland gibt es möglicherweise auch mit Blick auf Polio die Gefahr einer falschen Sicherheit“, sagte Rudi Tarneden, Sprecher des Kinderhilfswerks Unicef. Die meisten Eltern würden die dramatischen Auswirkungen der Kinderlähmung nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Das mache gleichgültig.
Zwar verläuft die Polio-Infektion laut RKI in rund 95 Prozent der Fälle asymptomatisch, bis heute ist die Krankheit allerdings nicht heilbar. Und es gibt immer wieder Ausbrüche. So wurde Anfang September ein Fall von Polio in der Ukraine bestätigt – verursacht durch das zirkulierende Poliovirus Typ 2 aus Impfstoffen.