Zitat von *********vibus:
„Die „Mechanik handlungsleitender Interessen“ ist ein Terminus, den ich nicht richtig einordnen kann. Wenn wir handeln, vergegenwärtigen wir uns nicht immer unsere Werte oder Interessen. Die meisten Handlungen werden intuitiv gemacht, ohne Werte oder Vor- und Nachteile abzuwägen. Ist das die „außermoralische Mechanik“, die Du meinst? Ich würde hier weniger von Interessen als von Erfahrungen sprechen. Denn unsere Intuition, die unsere „automatischen“ Reaktionen steuert, basiert vor allem auf Erfahrung.
Jetzt hatte ich extra "Mechanik" genutzt, und dennoch schwingt bei Dir "vergegenwärtigen" und "Abwägen" mit. Worte haben viel Beigepäck. Daher nehme ich zur Illustration, was ich meine, ein Beispiel:
Der Flankengott Paul Lusquamvibus ist für seine Fußballmannschaft so wertvoll, weil er es immer wieder schafft, von der rechten Seite so in den Strafraum zu flanken, dass selbst in Unterzahl der Stürmer den Ball perfekt aufgelegt bekommt und nur noch abschließen muss.
Was passiert bei so einer Flanke?
1. Definitiv rechnet sich P.L. nicht aus, mit welcher Kraft in welchem Winkel er den Ball wo treffen muss, um die ideale Flugbahn hinzubekommen. Die Physik hier ist etwas für Simulation im Großrechner. Das ist Erfahrung, Intuition, Talent und auch ein bisschen Glück.
2. Er rechnet auch nicht den Laufweg des Mitspielers in Abhängigkeit der Laufwege der gegnerischen Abwehrspieler aus. Dies ist nur sehr wenig Physik, sondern Erfahrung, Mustererkennung, aber auch Spielintelligenz.
3. Wenn zwei Mitspieler aussichtsreich stehen, wie wählt er zwischen beiden? Vielleicht Fairness (der D. ist jetzt mal dran) oder Sympathie oder Stallorder (der D. sollte Torschützenkönig werden in dieser Saison) oder auch nach Abschlusswahrscheinlichkeit (der D. ist einfach sicherer).
4. Warum zielt er überhaupt so, dass er einen aussichtsreichen Mitspieler trifft (und spielt nicht ins Aus)? Nun, er hält sich an die ungeschriebenen Regeln des Spiels: Dass es gut ist, wenn man gewinnt, und dass man dafür Tore schießen oder ermöglichen sollte.
Ich könnte noch weitermachen, aber hoffentlich wird schon jetzt Einiges klar: Wir reden über Sekunden oder sogar nur Bruchteile davon. Nichts ist hier "vergegenwärtigt", "durchgerechnet", oder "bewusst abgewogen".
Dennoch sind viele der genannten Faktoren
rekonstruierbar und wirkmächtig. Und das, was wir unter "Intuition", "Bauchgefühl" etc. zu fassen versuchen, ist ein Kaleidoskop unterschiedlicher Faktoren. Die sind bei der einzelnen Handlung nicht mit chirurgischer Präzision sezierbar, aber sie sind - für jeden, der etwas von Fußball versteht - beim Flankengott P.V. offenkundig wirksam. Und es nimmt der "Flankengöttlichkeit" von P.V. auch nichts von ihrem Nimbus, wenn man sie wie oben 1.-3. aufdröselt.
Diese Faktoren, die bedingen, welche Handlung P.V. ausführen wird, die meinte ich mit "Mechanik handlungsleitender Interessen". Und genauso kommen auch unsere alltäglichen Handlungen zugute: Ob ich dem/der BettlerIn einen Euro in den Hut werfe, kann von zwanzig Fakoren abhängen und in der Regel ist keiner davon bei der Handlungsausführung bewusst. Nichtsdestoweniger wird man einige davon
rekonstruieren können ("Gute/Schlechte Laune", "Erreichbarkeit von Kleingeld", "Habe ich heute (oder gerade erst) jemandem etwas in den Hut geworfen?", "Sehe ich BettlerInnen vorrangig für SozialschmarotzerInnen oder für Menschen, die der Hilfe bedürftig sind?" etc.). Und einige (
!) dieser Faktoren werden eben auch meine Werte sein, z.B. "Wer abgeben kann, sollte abgeben, wenn er damit helfen kann".
Ich hoffe, in diesem länglichen Post folgende Punkte deutlich gemacht zu haben:
• Es geht mir nicht (ausschließlich oder auch nur hauptsächlich) um bewusste Handlungen.
• Auch nicht um "berechnen" oder "abwägen".
• Auch intuitive Handlungen sind mindestens teilweise
rekonstruierbar, zumal wenn sie wiederholt stattfinden.
• Bei dieser Rekonstruktion kommen in der Regel moralisch wertfreie Faktoren (z.B. "Habe ich überhaupt Kleingeld dabei?") und moralische Werte ("Mannschaftsdienlich spielen ist gut.", "Helfen ist gut.") zusammen.
Sind wir soweit d'accord?