“Sie sagen, es wird irgendwann leichter. Irgendwann vergisst du, sagen sie, daran zu denken. Dann ist es vorbei. Ich schaue ein bisschen irritiert, weil ich doch gar nicht will, dass es vorbei ist. Ich will, dass es nicht aufhört, ich war doch der, der nachts bei dir geklingelt hat, um zu sagen: Bitte geh nicht. So schlicht wird man nämlich in seinen Gefühlen, so heruntergebrochen und einfach. Man sagt nichts Großes mehr, zitiert niemanden und es ist auch nichts Poetisches in all den verzweifelt gesammelten Worten, die einem aus den Fingern und dem Mund fallen, auf den Boden zwischen dem anderen und dir, weil da plötzlich so viel Raum zwischen euch ist, dass da überhaupt etwas hinpasst, wo vorher kein Zentimeter Platz war. Und dann stehst du plötzlich da und begreifst: Ich bin jetzt alleine. Ich bin kein Teil mehr von zweien, ich bin nicht mehr jeden Samstagabend mit der Couch und einem Film und dem anderen verabredet, ich bin nicht mehr verliebt, vergeben, verlobt, verheiratet, ich bin nicht mehr längst in einem sicheren Hafen, angekommen, in Ketten und in Liebe, in Ewigkeit, Amen. Ich bin nicht mehr zugehörig und unerhört sicher, so verdammt verliebt und geliebt, Teil einer WG, die eigentlich eine Lebensgemeinschaft ist, ich bin nicht mehr Freund oder Freundin, nicht mehr Partner von irgendwem, nicht mehr bei Facebook “in einer Beziehung”, nicht mehr “Dein Interesse ehrt mich, aber ich habe eine Freundin”, nicht mehr “Mein Freund kommt gleich vorbei und wir machen uns einen gemütlichen Abend”, nicht mehr aufgehoben, beschützt und umsorgt, nicht mehr Umarmung die ganze Nacht, nicht mehr “Du kannst mich immer anrufen, ich bin da”, nicht mehr dein Bärchen und auch nicht dein Schatz. Ich bin nicht mehr als Erinnerung, ich bin jetzt alleine, alleine, alleine und ich bin “Ich kann jetzt machen, was ich will.” Bloß will ich eigentlich gar nichts außer dich. Natürlich geht es weiter, das Leben. Das sagen sie alle, weil es die einzige Wahrheit ist, die immer stimmt. Alles geht weiter, du atmest noch, du lebst noch, du und dein gebrochenes Herz, ihr quält euch morgens aus dem Bett und nachts mit unruhigen Träumen, ihr trinkt noch den gleichen Kaffee, ihr geht noch “unter Menschen”, zum Friseur und in eine Bar, ihr kauft noch Lebensmittel und eine Fahrkarte, während ihr in Gedanken den ganzen Bahnsteig vollblutet, weil es wehtut, wehtut, wehtut. Plötzlich ist die ganze Stadt ein Museum: Hier waren wir das erste Mal aus, hier haben wir uns das erste Mal gesehen, hier haben wir uns geküsst und dort und dort und da vorne auch. Hier habe ich dir gesagt, dass ich dich liebe, habe es in den Telefonhörer gebrüllt, damit du es auch ja verstehst, weil du es damals ja nicht verstehen wolltest, woran sich im Grunde überhaupt nichts geändert hat. Hier waren wir essen, da waren wir im Theater, im Kino, in dieser Bar, in dieser anderen Bar, in diesem Club und in der Ausstellung, die keinem von uns gefallen hat.
An dieser Straßenecke war ich der traurigste Mensch der Welt und an dieser habe ich wegen dir in den Hörer geheult und mich furchtbar dafür geschämt. Die ganze Stadt hängt voller Bilder und Momentaufnahmen, und du läufst sie Schritt für Schritt ab, in deinem ganz privaten Museum der Grausamkeiten, der Erinnerungslücken und Falltüren. Der ganz normale Wahnsinn eines Kopfes, der sich sekündlich erinnert an jedes Detail. Du stellst fest: Nichts ist von dir übrig geblieben, das nicht durchdrungen wäre von Erinnerungen und Sehnsüchten, von dem Gefühl, dass nie wieder so etwas Großes kommt. Wie groß es wirklich war, hast du nicht begriffen, solange es noch da war, wie alle anderen verstehst du die Antworten immer erst, wenn keiner mehr danach fragt. Du bist jetzt alleine und ebenso kannst du dir jetzt selbst auch all die Fragen stellen, auf die niemand mehr reagiert außer deinem müden Kopf, der immerzu Jeopardy mit dir spielt. Die Frage ist immer die gleiche: Warum bist du nicht mehr da? Vielleicht erzählst du jedem, was passiert ist. Vielleicht erzählst du es keinem. Vielleicht ertränkst du es in Schnaps und Lethargie; begräbst es unter Essen und Angst wie nie; betäubst es mit Sex und langen Nächten, mit Tanzen bis zum Verrecken, mit Rennen und Schweiß, mit Kontrolle und Schlaf. Vielleicht behältst du es für dich und schließt es in dir ein, sagst zu allem “nein” und wartest, bis es vorübergeht oder ob es am nächsten Morgen immer noch vor dir steht und dich anbrüllt, dass du es verloren hast, ganz egal, was du dagegen machst. Vielleicht erzählst du es deinen Freunden oder nur dem einen, deinem Pfarrer, deiner Mutter, deinem Steuerberater, vielleicht erzählst du es dem Kopfkissen, das du dir auf den Mund presst, damit dich niemand schreien hört, wenn du es nicht mehr aushältst. Vielleicht schweigst du und lässt das Monster nicht raus, vielleicht erzählst du es jedem und lachst dich dann selber dafür aus. Aber egal, wie oft du darüber sprichst: Es ändert sich nichts, Du starrst auf dein Telefon und beginnst ganze Tage zu zählen. Elf, seitdem es vorbei ist. Drei, seit deiner letzten verzweifelten Nachricht. Einer, seitdem du doch wieder eine Mail geschickt hast: Lass es mich erklären, bitte. Ich entschuldige mich für alles. Auch für das, was ich nicht verstanden habe. Ich entschuldige mich für jedes Wort, für alles, was du glaubst, das ich falsch gemacht habe. Ich entschuldige mich für jeden Satz, für die letzte E-Mail, ich habe es jetzt begriffen, ich habe alles verstanden, gib mir noch eine Chance, ich mache alles anders, ich werde so anders sein, dass ich gar nicht mehr ich selber bin, gib uns doch diese letzte Chance, Baby, ich entschuldige mich, ich entschuldige mich, ich entschuldige mich für mich und alles, was ich bin. Was du bekommst: manchmal eine Antwort auf dein Geschrei. Eine Nachricht, dass ihr ja Freunde bleiben könnt. Du bist echt ein toller Kerl, wirklich, total. Du bist echt eine beeindruckende Frau. Vergiss das nicht, Baby. Aber jetzt, jetzt solltet ihr erst einmal Abstand halten. Das sagen sie so: Lass doch erst einmal ein bisschen Zeit vergehen. Du starrst dein Telefon an oder deinen Laptop und fragst dich, ob deine Zeitrechnung plötzlich eine andere ist. Denn die Tage dauern jetzt doppelt so lange und eine Minute besteht aus tausend Gefühlen und eine Woche ist jetzt ein Kraftakt aus Warten und Hoffen, Beben und Beten, aus Verzweiflung und Angst, und das bisschen Schnaps kann nicht löschen, was immerzu in dir brennt, sondern macht aus den Gedanken Stichflammen, die sich durch deinen Bauch brennen. Deine Synapsen schreien, dein Kopf schmerzt und alles, woran du denken kannst, ist: Das ist nicht echt, das passiert alles gar nicht, morgen wache ich auf und das hier hat ein Ende, ich werde wieder glücklich sein, glücklich und jemand, dem man sagt, dass er geliebt wird, und dann lasse ich mich in die Kissen zurückfallen und alles ist gut, es war nur ein schlimmer Traum, morgen ist es vorbei.
Aber es hört nicht auf und du willst dich abwerfen, abstreifen und loswerden, du willst, dass die Men in Black kommen und dich blitzdingsen, dass du einfach vergisst und wieder so alt bist wie an dem Tag, an dem ihr euch kennengelernt habt, bloß wirst du dieses Mal nicht in diese Bar gehen, nicht den Bus nehmen, nicht auf das Lächeln antworten. Du wirst dich einfach umdrehen und dich niemals verlieben und sowieso wirst du dich nie wieder verlieben, wenn das hier der Preis ist, den du bezahlen musst, dann verzichtest du, vielen Dank, aber nein, ich bin schon bedient worden, aber so was von. Manchmal fragt dich jemand, wie es dir so geht, und du sagst sofort: ok. Denn mehr ist gerade nicht drin, mehr kann man ja wohl nicht erwarten. Dir geht es ok, auch, wenn eigentlich gar nichts ok ist und du nur darauf wartest, endlich nach Hause zu gehen, dir die Decke über den Kopf zu ziehen und laut zu schreien: Es ist gar nichts ok, gar nichts, verdammt, aber auch wirklich nichts. Trotzdem lächelst du, muss ja keiner wissen, wie schlimm es um dich steht, darf ja keiner ahnen, dass du die meiste Zeit gar keine Luft mehr bekommst, weil du nicht mehr weißt, wie man eigentlich atmet, wie man Luft bekommt, wenn man vergessen hat, wie sich Gehen ohne tausend Kilo Gepäck aus Vermissen und Vergessenmüssen anfühlt. Du schleichst durch die Straßen und durch die Tage, du hast den Kopf gesenkt, so tief, dass er zu nah am Herzen ist. Und das sind dann die Momente, in denen du im Bus zu heulen anfängst, weil das nicht mehr auszuhalten ist, wenn das Herz im Kopf sitzt und keiner was dagegen machen kann außer diese ominöse “Zeit”, von der immer alle reden, die dir aber leider gerade gar keine Hilfe ist, weil sie sich einfach über Nacht auf ihr Dreifaches ausgedehnt hat und so langsam ist, wie du es neuerdings bist. Du trinkst und du gehst aus. Weil du deine “neue Freiheit” ja jetzt genießen sollst. In der Menge suchst du nach dem Gesicht, das du inzwischen ohnehin in jedem anderen wiedererkennst. Du siehst ständig Gespenster - einen Hinterkopf, der ihrer sein könnte, eine Brille, ein Lächeln, eine Geste, ein Fahrrad, das ihm gehören könnte. Und immer bleibt für einen winzigen Moment das wilde Herz stehen, immer irrst du dich, immer hast du nicht richtig hingesehen, dann senkst du deinen Kopf und atmest ein und atmest aus und weißt nicht mehr, was schlimmer wäre: wenn sie wirklich hier auftauchen würde, wenn er wirklich dort drüben an der Theke stünde - oder wenn nicht. Denn das ist jetzt das Paradox deines Lebens, der immerwährende Schmerz: Du vermisst und du verreckst vor Sehnsucht, aber du willst ihn nicht sehen, du willst sie nicht anfassen, nicht treffen und auch nicht zufällig, wenn das bedeutet, dass sie nicht auf dich zugelaufen kommt und dich umarmt, dass er nicht seine Hand in deinen Nacken legt und leise sagt: Es ist schön, dich zu sehen. Dann verzichtest du lieber ganz darauf, dann bist du eigentlich froh, wenn du dich irrst. Und trotzdem ist da dieses Sehnen und dieses Quälen, das Warten deiner Tage. Du glaubst noch immer, dass sie vielleicht zurückkommt oder dass er endlich anruft. Nichts davon passiert und mit den Stunden und den Tagen, den Wochen und den Monaten gibst du langsam das Hoffen auf. In den schlimmen Momenten schickst du eine Nachricht, die du am nächsten Tag bereust. In den schlimmen Momenten krümmst du dich noch manchmal zusammen und hältst es kaum aus. In den schlimmen Momenten schaust du dir noch mal die Bilder an und fragst dich, wann das nicht mehr wehtun wird. In den schlimmsten Momenten weißt du jetzt, dass es wirklich vorbei ist. Die Zeit hat dir am Ende noch geholfen, auch wenn du weißt, dass ein Geruch, ein Moment, ein kleiner Augenblick ausreichen würde, damit die Bilder wiederkommen. Dass sie immer noch anrufen könnte, dass er immer noch vor der Tür stehen und fragen könnte: Kann ich zurückkommen? Und deine Antwort wäre noch immer: Ja.”
— Die wahrste und herzzerreißendste Beschreibung einer Trennung aus “Morgen ist es vorbei” von Kathrin Wessling.