Verführung und Konsens
Ich hatte am letzten Wochenende ein Erlebnis, das viel in mir ausgelöst hat und mich seitdem neu über die Themen Konsens und Verführung nachdenken lässt. In erster Linie möchte ich Euch einfach davon erzählen. Ich freue mich über Eure Gedanken zu dem Thema, möchte Euch aber bitten nichts zu meiner speziellen Situation zu schreiben, da diese sehr komplex ist, ich sie hier garantiert nicht ausreichend darstellen kann und es sich demnach für mich nach Zerreden anfühlen würde. Ich habe das Wochenende bei einem guten Freund verbracht. Wir waren vor über zehn Jahren mal ein Paar und sind seitdem gut befreundet, rein platonisch. Er ist sehr konservativ und kann mit meinen Entwicklungen im Bereich Sexualität und Polyamory nichts anfangen; einiges weiß er, doch das ist meist kein Thema zwischen uns. Es gab in diesen Jahren einige Abende, wenn wir vom Tanzen nach Hause kamen und ich gedacht habe, es wäre schön, jetzt nicht alleine ins Bett zu gehen. Da ich aber wusste, dass es für ihn keine Option ist, auf diese relativ unverbindliche Art Sex zu haben, bin ich halt immer brav alleine ins Gästezimmer gegangen und habe nicht weiter darüber nachgedacht.
Letztes Jahr hat sich plötzlich meine Einstellung zu ihm geändert, bzw meine Gefühle. Plötzlich war er wieder in meinen Gedanken, ich habe nachts erotische Träume von ihm gehabt, habe ihn ganz anders beobachtet – und ihn plötzlich wieder so sehr gewollt! Wir sehen uns nicht so häufig, so dass ich das ganze erst mal wieder verdrängt und als Laune abgetan habe. Aber es hat sich nicht wieder geändert. Letztes Wochenende war ich wieder bei ihm, diesmal für vier Tage statt wie sonst nur ein oder zwei. Zeit für…
Am zweiten Tag habe ich – immer noch ohne irgendeinen Plan oder Ahnung wo das hinführen sollte – angefangen ihn zu provozieren. Wir haben eh immer wieder mit Andeutungen gespielt, das habe ich intensiviert, dazu näher gestanden als nötig… Es ist ihm relativ schnell aufgefallen und er hat es direkt angesprochen: „Was hast du vor?“, und gleich darauf hingewiesen, dass das wohl unsere Freundschaft zerstören würde und es das nicht wert sei. Aber das Thema war jetzt offen und im Raum.
Nein, wir haben nicht miteinander geschlafen an diesem Wochenende. Weil er es nicht gewollt hätte. Aber ich hätte mehrmals die Möglichkeit gehabt, offensiver zu sein, und er hätte mich dann wohl nicht zurückgewiesen. Am Sonntag hat er sich bei mir für diese Achtsamkeit bedankt. Ich weiß, dass ich noch vor einigen Jahren anders gehandelt hätte.
Seitdem frage ich mich, in wie vielen Begegnungen es normal ist, dass der eine den anderen zu etwas drängt, was nicht zu Ende durchdacht und gefühlt ist. Gerade in Szenen, wo es um Erotik und Sex geht (Bondage, Tantra, SM, …), aber auch in „normalen“ Begegnungen herrscht häufig die Auffassung, dass Lust ausgelebt werden soll/ kann, wenn sie denn bei beiden da ist. Aber was ist mit den Situationen, wenn einer von beiden mit inneren Widersprüchen und der eigenen Integrität kämpft? Wie viele Menschen sind überhaupt in der Lage, dies wahrzunehmen und sich dann zurückzuhalten? (Hier hatte ich den Vorteil, dass wir uns schon so lange kennen.)
Immer wieder wird von Erwachsenen geredet, die ja jederzeit in der Lage sein sollten, einfach Nein zu sagen. Aber vielen fällt das aus verschiedenen Gründen schwer. Kann jemand, der nur schwer Nein zu etwas sagen kann, wirklich durch Unterlassen Ja sagen? Oder wäre da nicht mehr Achtsamkeit und Vorsicht angebracht und das Einfordern eines klaren Ja auf allen Ebenen (gefühlt, nicht nur ausgesprochen)? Ich komme mir gerade vor, als würde ich meine Ansprüche an mich selbst und andere sehr hoch schrauben. Andererseits erscheint mir das als Ideal und als einziger Weg zu echter Intimität.