Neue Zürcher Zeitung: Die gekränkte Gesellschaft - 31.12.2020
Die gekränkte Gesellschaft
Es liegt im Wesen einer auf technologischen Fortschritt gebauten Gesellschaft, dass sie sich für unverwundbar hält. Die Corona-Pandemie aber macht unserem Machbarkeitsglauben einen dicken Strich durch die Rechnung. Gastkommentar von Konrad Paul Liessmann
Die oft gestellte Frage, was das Virus mit uns und der Gesellschaft, in der wir leben, macht, war immer schon falsch formuliert. Richtig müsste sie lauten: Wie reagieren wir auf die pandemische Bedrohung? Eine naheliegende, aber selten gegebene Antwort wäre: Wir sind gekränkt. All das, was die moderne Gesellschaft im vergangenen Jahr durchmachen musste, war in ihrem Fortschrittsprogramm nicht vorgesehen. Dieses orientierte sich an Parametern wie Wachstum, Beschleunigung, Optimierung, Sicherheit, Offenheit und Austausch. Seuchen gab es höchstens in Weltgegenden, die weder die europäischen Hygiene- und Gesundheitsstandards noch das unbedingte Vertrauen in eine aufgeklärte Wissenschaft kannten.
Dass ein Virus die Dynamik einer technologisch hochgerüsteten Gesellschaft bremsen, ja ausser Kraft setzen kann, überstieg unser Vorstellungsvermögen. Und dass nicht nur die vollmundigen Versprechungen der Trendforscher, sondern auch die besorgten Aufrufe der Klimaschützer von eher exotischen Begriffen wie Lockdown, Virenlast, Inzidenz, Übersterblichkeit, Superspreader, Maskenpflicht und Abstandsregel verdrängt wurden, hat den Nerv einer Gesellschaft getroffen, die wähnte, andere Sorgen zu haben.
Wie im Mittelalter
Mit Recht ist angemerkt worden, dass wir dem Virus lange nichts anderes entgegenzusetzen wussten als jene Massnahmen, die schon die Seuchenbekämpfung des Mittelalters gekennzeichnet hatten: Absonderung, Kontaktvermeidung, Desinfektion. Schlimmeres, als in solch finstere Zeiten zurückgestossen zu werden, kann einer Zivilisation nicht passieren, die überzeugt davon ist, technisch und moralisch alle vergangenen Epochen überflügelt zu haben. Das Coronavirus hat uns in einem doppelten Sinn gekränkt: Es machte eine bisher unbekannte, ansteckende, womöglich tödliche Erkrankung zum alles beherrschenden Thema, und es hat damit unser zur Überheblichkeit neigendes Selbstwertgefühl empfindlich verletzt.
Eine gekränkte Gesellschaft ist eine trotzige Gesellschaft. Jeder blendet störende Erfahrungen gerne aus seinem Wirklichkeitskonzept aus. In der Moderne war Krankheit nur mehr als individuelles Problem präsent, nicht als ein kollektives Ereignis, auf das politisch reagiert werden muss. Darin liegt eine der Ursachen für die Turbulenzen der letzten Monate. Medizinisch gebotene Regeln, die im Einzelfall jeder akzeptieren würde, ohne an Freiheitsberaubung zu denken, werden zu einem Angriff auf die Grundrechte stilisiert, weil sie allen zugemutet werden müssen. Die Krise offenbarte, dass viele ihre individuelle Freiheit ohne jenen politischen und sozialen Rahmen denken wollen, der diese überhaupt erst ermöglicht. Die demonstrative Anstrengung, mit der manchen Gesetzen und Verordnungen ihre Verfassungswidrigkeit nachgewiesen werden konnte, verdankte sich kaum der Sorge um den Rechtsstaat, sondern speiste sich aus der störrischen Überzeugung, dass dieser ausschliesslich die eigene Befindlichkeit zu schützen habe. Für gemeinsame Kraftanstrengungen ist solch eine Haltung nicht die beste Voraussetzung.
Gerne unentschlossen
Die gekränkte Gesellschaft ist eine zögerliche Gesellschaft. Es liegt im Wesen einer Epidemie, dass sie nur durch rasches und koordiniertes Verhalten bekämpft werden kann. Darin gründet die vielbeklagte Zunahme staatlicher Macht. Die dagegen ins Spiel gebrachte Selbstverantwortung war allerdings immer schon eine Ausrede für politische Unentschlossenheit. Das gilt in besonderer Weise für die Europäische Union, die weder willens noch in der Lage war, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln.
Der erst vor wenigen Tagen veröffentlichte Vorschlag führender Wissenschafter, einen europaweiten harten Lockdown zu verhängen, um die ständigen Konjunkturen des Virus, die durch regionale und nationale Alleingänge befördert werden, zu stoppen, ist löblich, kommt jedoch zu spät. Diese Empfehlung wäre vor acht Monaten notwendig gewesen. Damals jedoch verliebte sich vor allem das gehobene Feuilleton in die Theorie des Hobbyvirologen Tomas Pueyo, der verkündet hatte, dass es nach einer kurzen Phase der Schliessungen möglich sein sollte, durch gezielte Lockerungen auf dem Corona-Vulkan zu tanzen und das Virus zu kontrollieren: «The Hammer and the Dance». Nach dem dritten Lockdown spricht niemand mehr davon.
Die gekränkte Gesellschaft ist eine dogmatische Gesellschaft. Das Virus erschütterte unser Verhältnis zu Experten. Zu gerne hätte man wenigstens bei diesen Einhelligkeit gesehen. Dass eine empirische Wissenschaft wie die Virologie konkurrierende Theorien, Hypothesen und Vermutungswissen, Modelle und ihre Revisionen kennt, musste offenbar erst gelernt werden. Dass sich aus solchen, mitunter widersprüchlichen Konzepten keine eindeutigen Regularien ableiten lassen, zumal die rein medizinischen Überlegungen immer mit ökonomischen und sozialpolitischen Erwägungen abgestimmt werden müssen, führt uns ein veritables Dilemma vor Augen: Politisches Handeln bedeutet immer, Komplexität zu reduzieren – auch in einer Demokratie. Wer dies tut, egal in welcher Weise, macht sich angreifbar. Das Wesen der Reduktion besteht darin, Aspekte zu vernachlässigen, die dann locker als Gegenargument stark gemacht werden können. Dogmatiker haben es einfacher. Sie verkünden Wahrheiten, die keine sind. Doch man kann daran glauben.
Die gekränkte Gesellschaft ist eine ungeduldige Gesellschaft. Sie kann nicht warten. Und sie hat schon lange auf den Verzicht verzichtet. Vorübergehende Einschränkungen werden deshalb nicht als Unannehmlichkeiten wahrgenommen, sondern als dramatische Einschnitte. Bei der ersten Gelegenheit macht man dort weiter, wo man aufgehört hat, und verlängert damit genau diejenige Misere, der man entkommen möchte.
Von der gerühmten Resilienz, die vor der Corona-Pandemie als neue Modetugend propagiert worden war, ist kaum etwas zu spüren. Eher macht sich Wehleidigkeit breit. Während die Tausende von Toten, die das Virus in nahezu jedem Land bisher forderte, lediglich in der Statistik aufscheinen, ohne dass die damit verbundenen Leidensgeschichten spürbar würden, häufen sich die Berichte über Jugendliche, die schweren seelischen Schaden nähmen, weil sie ein paar Monate auf Präsenzunterricht und Partys verzichten müssten.
Dabei gibt es ohnehin die stillschweigende Übereinkunft, eine gewisse Zahl an Erkrankungen mit ungewissem Ausgang in Kauf zu nehmen, um den Konsum und das Vergnügen nicht ganz zu ersticken. Mit der Dauer der Pandemie hat sich die Toleranz gegenüber dieser Zahl merklich erhöht. Rigidere Massnahmen hätten wohl mehr Menschenleben retten können, aber das war es dann doch nicht wert. Die Leichtigkeit, mit der mitunter die Lebenserwartung älterer Menschen gegen das Recht auf eine Ferienreise aufgerechnet wurde, lässt noch einiges erwarten. Dahinter verbirgt sich entgegen einer gerne vertretenen Auffassung kein Generationenkonflikt, sondern die Frage nach dem Wert eines menschlichen Lebens. Unter bestimmten Umständen kann dieser durchaus unabhängig vom Lebensalter ziemlich gering eingeschätzt werden.
Die gekränkte Gesellschaft ist eine widerborstige Gesellschaft. Niemand lässt sich gerne bevormunden. Dem Imperativ zum gemeinsamen Handeln, den uns das Virus oktroyiert, kann nur entgehen, wer die Gefahr einer Infektion zu einer Quantité négligeable oder überhaupt zu einer Fiktion erklärt. Die Attraktivität solcher Konzepte für Freigeister, Staatskritiker und anarchische Individualisten liegt auf der Hand. Es gehört zu den Pointen dieser Pandemie, dass sich neben liberalen vor allem rechte und populistische Parteien, denen laut konventioneller Zuschreibung die Gesundheit des Volkskörpers heilig sein sollte, zu den Fürsprechern dieser rebellischen Position gemacht haben. Zumindest in der politischen Theorie müsste man daraus den Schluss ziehen, dass man es sich mit dem schlichten Links-rechts-Schema wieder einmal etwas zu leicht gemacht hatte.
Verzerrte Wahrnehmung
Die gekränkte Gesellschaft ist eine gespaltene Gesellschaft. Die Bruch- und Konfliktlinien orientieren sich nicht entlang der traditionellen sozialen Schichtungen, sondern bilden sich durch neue Betroffenheiten, die entsprechende Allianzen generieren. Unversöhnlich stehen sich die virologischen Lager gegenüber, jeder wittert im anderen den Hysteriker, Leugner oder Idioten.
Doch die These von der gespaltenen Gesellschaft ist selbst Ausdruck einer medial verzerrten Wahrnehmung. Tatsächlich öffnen sich die spektakulärsten Gräben an den Rändern der Gesellschaft, nicht in deren Mitte, wie gerne behauptet wird. Die Lautstärke, mit der sich Minderheiten dank den sozialen Netzwerken bemerkbar machen können, nützt jenen, die als «Querdenker» die Kraft einer Opposition simulieren, der in der Realität wenig entspricht. Nebenbei: Angehöriger einer Minderheit zu sein, stellt noch keine moralische oder intellektuelle Qualifikation dar. Vielleicht wäre es an der Zeit, ein Loblied auf jene Mehrheit anzustimmen, die sich nur dadurch bemerkbar macht, dass sie das tut, was nach dem derzeitigen Stand des Wissens getan werden kann, um nicht alles preiszugeben.
Die Kränkung der gekränkten Gesellschaft sitzt so tief, dass manche die nun angebotene Impfung als Zumutung und weiteren Angriff auf ihre Freiheit interpretieren – so, als wollte man der Forschung und der Pharmaindustrie diesen Triumph einfach nicht gönnen. Zwar werden die Vakzine nicht alle Probleme mit einem Schlag lösen, doch manches liesse sich endlich wieder unter einer anderen Perspektive sehen. Aber auch hier gilt: Es kommt nicht darauf an, was die Dinge mit uns, sondern was wir mit den Dingen machen.
Konrad Paul Liessmann
ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien.
Aus dem NZZ-E-Paper vom 31.12.2020