Ist Slow Sex einfach nur Zeitlupen-Sex? Weit gefehlt! Slow Sex ist ein unheimlich intimes Miteinander, das für manche Beziehung sogar zum Game Changer werden kann. Ein Erfahrungsbericht.
Von Yella Cremer
Gedimmtes Licht, ein paar Kerzen, eine große, bequeme Unterlage, Kissen und Polster in verschiedenen Größen und Formen, das Gleitgel in Griffweite – zufrieden schaue ich mich um. Das Liebesnest ist vorbereitet und lädt zum Wohlfühlen, Entspannen und Genießen ein. Voller Vorfreude entzünde ich die Kerzen, während der Liebste die Kissen positioniert. Die Smartphones und andere potentielle Störenfriede sind aus dem Raum verbannt, der Alltag rückt für einige Stunden in weite Ferne und diese Stunden gehören nur uns beiden.
Denn wir sind heute zu einem ganz besonderen Date verabredet: zum Slow Sex!
Slow Sex: für Langzeitpaare und solche, die es werden wollen
Zu Unrecht häufig als "langsamer Sex" oder "Sex light" bezeichnet, birgt Slow Sex – ein von der südafrikanischen Körpertherapeutin und Tantra-Lehrerin Diana Richardson geprägter Begriff – ein großes Potential für Paare, die mit ihrem aktuellen Sexleben nicht völlig zufrieden sind oder das Gefühl haben, Sex ist viel zu selten geworden. Damit haben vor allem Paare zu kämpfen, die schon länger zusammen sind: Am Anfang war Sex ganz leicht und häufig. Nach einer Weile wird er jedoch immer seltener und bald scheint es kaum mehr möglich, den richtigen Anfang zu finden. Langsam baut sich Frust auf, weil jeder schon eine ganze Menge Zurückweisungen erlebt hat – dabei liebt man sich doch.
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Nach einiger Zeit des Übens kommt irgendwann der Punkt, an dem man merkt: 'Wow, jetzt haben wir’s!'.
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Wir selbst waren vorab ganz schön skeptisch, hatten wir doch ziemlich genaue Vorstellungen, wie Sex sein sollte: wild, leidenschaftlich, geil – und auch tantrisch! Das Konzept des Slow Sex ist eher das Gegenteil, was auf den ersten Blick ganz schön ungewöhnlich wirken kann: Entspannung und Nähe stehen im Mittelpunkt. Dennoch ist es absolut wert, dieser vielleicht erstmal seltsam anmutenden Sex-Praktik eine Chance zu geben und Slow Sex zu "lernen". Diese Ausdauer wird belohnt!
Denn das Schöne am Slow Sex ist: Nach einiger Zeit des Übens kommt irgendwann der Punkt, an dem man merkt: "Wow, jetzt haben wir’s!" Sex ist so leicht wie nie zuvor, es gibt eine innige Nähe und man fühlt sich richtig "satt".
Was ist Slow Sex eigentlich konkret?
Slow Sex ist achtsamer Sex, bei dem man sich ganz auf’s Spüren im Moment konzentriert. Beide Partner sind sich dabei nah und fokussieren sich auf Empfindungen, die im Körper entstehen. Das Besondere: Eine Erektion ist nicht zwangsläufig notwendig, die weiche Penetration ist eines der Geheimrezepte im Slow Sex! Wichtig ist lediglich der Kontakt zwischen Penis und Vagina, ob der Penis dabei erigiert und tief eingeführt ist, ist zweitrangig.
Das Erlernen des Slow Sex gliedert sich in drei Phasen mit ansteigender Bewegung, da es zu Anfang etwas herausfordernd sein kann, vom gewohnten Sex in die Kunst des Slow Sex einzutauchen. Die drei Prinzipien des Slow Sex sind Entspannung, Achtsamkeit und Absichtslosigkeit. Entspannung und Achtsamkeit sprechen jeweils für sich – wie verhält es sich aber mit der Absichtslosigkeit? Absichtslosigkeit bedeutet hier: Das Ziel von Slow Sex ist nicht der Orgasmus! Ein Orgasmus darf sein, ist jedoch kein Muss. Das mag erstmal ungewöhnlich klingen, hat jedoch enorme Vorteile: Ist der Sex nicht Orgasmus-bezogen, lässt es sich viel entspannter an die Sache herangehen und es besteht kein Druck zu "performen".
Aus dem Nichts-Tun entsteht eine ganze neue Art von Lust und Ekstase, die den ganzen Körper erfasst statt nur die Genitalien. Zugegeben, eine ungewohnte Erfahrung, die etwas Geduld von uns brauchte.
Über Yella Cremer
Als Sex-Expertin und Intimitätscoach berät Yella Cremer entlang ihres Motos "Guter Sex lässt sich lernen". Sie ist ausgebildete Diplom-Sozialpädagogin und hat sieben Jahre lang eine Tantramassage-Praxis geleitet. Yella Cremer ist Autorin der Bücher "Die 50 besten Sexschulen" und "Das G-Punkt-Handbuch für Sexgötter". Zuletzt erschien "Liebe würde Slow Sex machen". Gemeinsam mit ihrem Mann Samuel Cremer gibt sie Slow-Sex-Online-Kurse (
http://www.lust-lauschen.de).
Slow Sex erlaubt, Nähe und Sex neu zu erfahren
Viele fühlen sich in der heutigen Zeit, in der Sex so unglaublich leicht verfügbar ist, trotz oder gerade wegen des Sex-Überangebots durch Pornos, Tinder und Co. nicht "richtig" befriedigt. Sex oder Masturbation geraten nur noch zum schnellen Druckabbau und häufig bleibt ein Gefühl der Leere zurück. Oder es wird immer anstrengender, die neueste Sextechnik draufzuhaben und in einem durchgetakteten Alltag bleibt zudem oft wenig Zeit für Sex, gerade nachdem die Hormone der Verliebheitsphase abgeflaut sind.
Genau an dieser Stelle setzt Slow Sex an. Wir konnten uns vorher selbst nicht vorstellen, was für einen gravierenden Unterschied Slow Sex macht. Slow Sex ist nicht dazu gedacht, herkömmlichen Sex zu ersetzen, sondern ist eine zusätzliche wunderbare Möglichkeit, Sex neu zu erfahren und zu erleben.
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Slow Sex ist viel einfacher anzufangen, als herkömmlicher Sex, weil es keine Erregung oder Lust braucht.
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Wir wärmen uns gemeinsam auf, bleiben dabei jedoch entspannt. Es geht nicht um irgendein Ziel, also gibt es auch keinen Druck, etwas zu erreichen. Jeder Moment ist schön. Durch die Achtsamkeit und das bewusste Miteinander-verbinden erfahren wir beim Slow Sex eine ganz neue Art der Befriedigung, die man auch Sättigung nennen könnte.
Diese Befriedigung hallt noch sehr lange nach. Nicht nur während des Slow Sex, sondern auch danach sind wir uns ganz besonders nah. Diese Nähe festigt unsere Partnerschaft. Wir sind überzeugt davon, dass Slow Sex unsere Beziehung gestärkt und vom sexuellen Frust befreit hat. Denn auch in unserer Beziehung gab es nach der ersten Verliebtheitsphase eine Flaute im Liebesleben, während der wir sexuell einfach nicht so richtig zueinandergefunden haben.
Slow Sex ist ein Game Changer
Natürlich bedurfte es ein wenig Zeit und Geduld, bis wir die Prinzipien des Slow Sex verinnerlicht hatten. Alle Grundsätze über Sex, die so ganz normal erscheinen, werden auf den Kopf gestellt: Es braucht keine Erregung, keine Lust und es kommt auch nicht darauf an, den anderen möglichst heiß zu machen. Stattdessen folgt man dem sexuellen Genuss, der sich mit Entspannung und dem einfach nur Da-Sein einstellt. Ich behaupte: Wer es einmal ausprobiert hat, will gar nicht mehr darauf verzichten.
Als wir den ersten richtigen Slow Sex hatten, war das ein regelrechter Game Changer, der sowohl unser Sexleben, als auch unsere Beziehung auf ein völlig neues Level gehoben hat. Warum hatten wir uns nur immer so angestrengt, es "richtig" zu machen? Jetzt war es auf einmal ganz einfach, Sex anzufangen. Unser sexuelles Vertrauen zueinander wuchs enorm, interessanterweise sogar höher als jemals zuvor. Wir entwickelten etwas, das wir "sexuelle Geborgenheit" nennen: sich beim anderen sexuell willkommen zu fühlen.
Nachdem wir eine Weile mit Slow Sex experimentiert hatten, haben uns immer wieder Paare gefragt, was wir da eigentlich machen. Es fiel auf, dass wir anders über Sex redeten. Was für ein Kompliment!