Aber: Wenn ich jetzt angenommen auf einem Tantra-Retreat oder etwas ähnlichem bin und ich lerne dort eine Frau kennen, die ich sympathisch finde, und wir stellen fest, dass wir beide total an Slow Sex nach Diana Richardson interessiert wären... und wir kommen drauf, dass wir das doch hier und jetzt miteinander tun könnten... da wäre ich wohl dabei, ohne mit der Wimper zu zucken, und würde wahrscheinlich keinen Gedanken daran verschwenden, dass diese Frau mir in dieser Welt doch nicht so nahe steht.
Macht das von außen betrachtet irgendwie Sinn?
Deine Formulierung "auf einem Tantra Retreat oder etwas ähnlichem..." triggert bei mir die Vermutung, dass für Dich Tantra doch sehr stark überwiegend fokussiert auf Sexuelle Interaktion, und dass Du davon ausgehst, es genüge vollkommen, dass Besucher*innen, die man auf solchen Veranstaltungen trifft, "an Slow Sex nach Diana Richardson
interessiert (!!) wären...", um eine erste Erfahrung damit zu machen.
Beides halte ich allerdings in verschiedener Hinsicht für deutlich zu kurz gegriffen.
Zum einen ist "Tantra" m. E. nicht verkürzbar auf die banale Formel: "Tantra ist gleich Sex". Ich kenne z.B. durchaus Tantra-Seminare, auf denen sogar Sex zwischen den Teilnehmenden explizit untersagt bzw. für nicht erwünscht erklärt wird, weil das sonst unter Umständen die geplante Dynamik eines zu Grunde liegenden, sorgfältig konzipierten längerfristigen Lern- und Selbst-Erfahrungsprozesses in der Gruppe unterlaufen oder verunmöglichen würde.
Leider missverstehen allerdings immer noch zu viele Teilnehmende alles, was unter der Bezeichnung "Tantraseminar" oder "Tantra-Veranstaltung" läuft, in erster Linie als Gelegenheit, sexuell mit dem anderen Geschlecht zu interagieren, was dann vielfach zu unschönen atmosphärischen Störungen führt.
Zum anderen ist es durchaus bedenkenswert, dass die Richardsons selbst das Seminar, in dem sie zum "Slow Sex" anleiten, "Making Love Retreat" nennen und dieses ausschließlich für Paare ausgeschrieben wird und nicht ohne Grund eine ganze Woche dauert um allein die Grundzüge zu vermitteln und in der Praxis anzuleiten und erste Erfahrungen aufzufangen, und sie empfehlen es auch ganz ausdrücklich für Paare, die schon eine echte Basis und Vertrautheit miteinander haben, also gerade nicht für Leute, die sich eben grade mehr oder weniger zufällig erstmals getroffen haben. Und auf dem Seminar selbst gibt es sehr viele praktische Übungseinheiten, aber ausschließlich immer nur innerhalb der festen Paarbeziehung und in der intimen Abgeschlossenheit der Zimmer.
Das bedeutet, dass es nicht sehr erfolgversprechend ist, wenn zwei Zufallsbekannte Slow Sex mal eben im Vorbeigehen miteinander ausprobieren wollen, ohne sich vorher wirklich tiefer darüber klar geworden zu sein, dass damit eine ganz andere Auffassung und Umgehensweise mit Sexualität einhergeht als die, die man üblicherweise bisher in seinem Leben praktiziert haben wird, und die einiges an Übung und gemeinsamem Verständnis erfordert, um als positiv erlebt zu werden.
Wer von den Slow-Sex-Neugierigen weiß denn schon, dass Diana Richardson die "stille Vereinigung" - eine zentrale Übung im Konzept des Slow Sex - anregt, auch und gerade wenn man dann gerade keine Lust auf Sex spürt? Dass sie dafür plädiert, sich durchaus zu festen Zeiten zum Sex zu verabreden, einen Raum dafür vorzubereiten und diese verabredete und freigehaltene Zeit dann auch tatsächlich dafür zu nutzen, ganz ungeachtet, ob man vorher dafür "in Stimmung" ist oder nicht. Das funktioniert nur bei Paaren, die sich bereits verbunden und eine tiefere Stufe der Intimität gemeinsam erreicht haben. Oder die sich bereits so weit kennengelernt haben und einander nahe gekommen sind, dass sie bewusst beschließen, sich auf einen längeren gemeinsamen Prozess miteinander einzulassen, also nicht "Slow sex" als Kink, den man mal eben ausprobieren möchte, so wie man vielleicht mal ausprobiert, Sex mit verbundenen Augen zu haben, oder mal ein neues Tool wie z.B. einen Dildo oder einen Flogger einzusetzen oder Sex auf dem Gynstuhl oder Ähnliches.
Dahinter steht der Gedanke, dass die Weisheit der Körper hier wirksam wird, d.h. dass es darum geht, sich zu vereinigen, d.h. den Penis in die Scheide einzuführen, egal ob steif oder nicht, und in dieser Stellung einfach aufmerksam wahrzunehmen, was dabei passiert. Und zwar frei von jeder Erwartung und jedem Leistungsdruck, auch der Erwartung, dass da jetzt eine "natürliche Geilheit aufeinander" schon dafür sorgen wird, dass der Penis steif wird und man ohne Hast und mit Genuss sich gemeinsam in spirituelle Ekstase katapultiert und auf der unendlichen Orgasmuswelle dahinsegelt. Denn darum geht es im Kern nicht, sondern darum, einander unverstellt zu begegnen und sich auszuliefern, ohne offene oder versteckte Angst oder Scham, egal ob potent oder impotent oder scharf oder.......Der weitere Verlauf wird alleine der "Weisheit der Körper" überlassen, d.h. das machen die Körper dann ganz alleine ohne weiteres äußeres Zutun.
Das gilt es zu erleben, wahrzunehmen und auch auszuhalten, gerade auch wenn dann vielleicht selbst über längere Zeit hinweg "nichts passiert". Es passiert nämlich dennoch eine ganze Menge, im besten Fall das Sich gewahr Werden, dass das so sein darf und man dennoch geliebt und gewollt ist, und diese buchstäblich am eigenen Leib erlebte und erfahrene Erkenntnis kann(!) dann bewirken, dass tatsächlich eine tiefe, auch körperlich empfundene, Lust entsteht und sich entwickelt, beide Körper sich ausschließlich aus dieser stillen Vereinigung heraus ihrer sexuellen Funktionalität besinnen und gemeinsam in Schwingungen und in einen lustvollen Austausch gelangen, der andere Dimensionen erreicht als die, welche gewöhnlich bei (auch gutem!) "hot sex" erlebt werden.
Das ist ein Prozess, der Übung verlangt und Zeit und Geduld und Durchhaltevermögen, zuerst das Ent-Lernen alter Denk- und Verhaltensmuster und dann auch das Erkunden und Ausprobieren und Würdigen der neu entdeckten. Also für noch Slow Sex unerfahrene Neulinge gerade nichts für ein "probeweises Abenteuer" mit Menschen, die man zufällig auf einem Seminar trifft und unter Umständen nie mehr wiedersieht.
"Slow Sex" als davon bisher unbeleckter Neuling zu praktizieren ist m.E. eine bewusste Entscheidung, die dann am besten funktioniert, wenn beide davor bereits wissen, dass sie tatsächlich zueinander passen und eine reflektierte Entscheidung getroffen haben, diesen gemeinsamen Entwicklungsweg mit allen Höhen und Tiefen auch auf längere Sicht miteinander zu beschreiten und Nähe zuzulassen.
Bei Menschen, die bereits über einen längeren Zeitraum hinweg über positive Erfahrungen in Slow Sex mit anderen Partner*innen verfügen, entweder aus früheren Partnerschaften oder weil sie sich in entsprechenden polyamoren Strukturen bewegen, beurteile ich das anders. Wenn die auf jemanden mit vergleichbarer Vorerfahrung
treffen, sei es im Rahmen eines Seminars oder sonstwo, und dann einem beiderseits akut vorhandenen Bedürfnis einvernehmlich nachgeben wollen, miteinander Sex zu haben, wird die Begegnung mutmaßlich zumindest Elemente des Slow Sex enthalten - obwohl vermutlich auch da bei einer ersten Begegnung mehr Elemente des Hot Sex und der Rausch der Leidenschaft die Oberhand gewinnen werden, und zwar genau aus dem Grund, der im obigen Zitat angeführt wird:
...und da wäre ich wohl dabei, ohne mit der Wimper zu zucken, und würde wahrscheinlich keinen Gedanken daran verschwenden, dass diese Frau mir in dieser Welt doch nicht so nahe steht.