Rene in Memorium

Als wir uns kennenlernten war ich 12 Jahre alt und du 16. Ich aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, du wohntest auf dem Dulsberg in Hamburg mit deiner Mutter in einer Wohnung mit 3 Zimmern.

Hatte die Wohnung 50 m² oder weniger? Ich weiss es nicht.
Deine Mutter fand ich nett, für eine Mutter sehr jung, Kaffee und Zigaretten anbietend.

Wusste sie, wie jung ich war? Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich hat sie von Sozialhilfe gelebt und der Job in der Bar, in der sie arbeitete, war " nebenbei" .

Für den Dulsberg war euer Leben sehr gut: Euer Kühlschrank war nie ganz leer.
Es gab keinen besoffenen , prügelnden Mann.
Es hätte wohl auch niemand gewagt, denn deine Freunde konnten durchaus zuschlagen. Und du hast deine Ma über alles geleibt, hättest sie immer verteidigt.
Du hattest einen Realschulabschluss und lerntest den damaligen Jungentraumberuf KFZ- Mechaniker. Der war sogar unter den Gymnasiastinnen cool- damals.
Nachmittags war ich oft bei dir. Teilweise hab ich dich von der Arbeit abgeholt und noch die letzten Arbeitsreste mitgemacht.

Boden durchfeudeln, Vorhof fegen. " Das Mädchen würd ich mir warm halten, die kann arbeiten" sagte dein Chef manchmal.

Mich redete er mit " Miiin Deeern" an. Sonst war er eher schweigsam.

Teilweise gingen wir zu " Den Kollegen" , die insgesamt eher arbeitslos waren. Dafür gut gebräunt, denn sobald es ging sassen sie mit der Bierkiste im sogenannten Park.3 hingeklatschten Bänken, von etwas Gebüsch umsäumt, etwas Rasen zwischen den Bänken.

Die Harmonie zwischen " den Kollegen" und mir war eindeutig getrübt- ich entsprach nicht so ganz ihrem Frauenbild.

Lieber ging ich mit dir zu deiner Mutter. Lag mit dir redend auf dem Bett, wir waren so unschuldig.

Manchmal schlug ich in deine Richtung, mein Kopfkino war nicht genital, dafür umso wilder. Meistens kam es dann zu einer Rangelei, du du regelmässig gewannst. Wurden deine Griffe mit der Zeit wirklich härter? Ich bin nicht sicher.Hieltest du mich wirklich länger oder bereits vorbeugend fest? Ich habe keine Ahnung. Ich konnte dir nichts sagen, ich konnte es noch nicht einmal wirklich denken oder aufschreiben. Ich ahnte, das es wohl Masochismus sei.Als 12jährige kannte ich bereits ganz viele witze über Sados und Masos. Es dir zu sagen war undenkbar.

Im Gegensatz zu " den Kollegen" schlugst du keine Frauen, deine Mutter hatte dich so erzogen. Über deinen Vater wurde nie geredet.

Du wurdest 17- Biertrinken mit den Jungs- und ich wurde 13. Geburtstagsfeier mit Schulfreundinnen.

Vor Sex hatte ich Angst. Du musst es wohl gespürt haben.
Ich lernte auf dem Gymnasium argumentieren. Wir wurden uns fremder.
Unsere Welten, von Anfang an entgegengesetzt, kollidierten immer mehr.
Ich machte immer mehr mit Drogen rum, du wurdest wirklich wütend wenn du es merktest.

Übers Knie gelegt hast du mich zu meinem Bedauern nie. Hätte es etwas Entscheidendes geändert? Hättest du deine Lehre zuende gemacht, Fachabi gemacht und Ingenieur oder Maschinenbau studiert? Wenn die Dinge anders gewesen wären? Wären wir eine glückliche Familie mit mehreren Kindern, deiner flotten Mutter in meinem Haus? Nach damaligen Maßstäben hätten wir viel Platz. Hättest du anders sein können wenn ich anders gewesen wäre? Wohl eher nicht.

Wie auch. Es war dein Anspruch, anders zu sein als die meisten Männer auf dem Dulsberg. Den Schlägern, so wolltest du nicht sein. Hätten wir in Begriffen wie SSC überhaupt denken können, wenn wir sie gekannt hätten? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, das wir uns sehr geliebt haben.

Du wurdest 18, hattest sehr schnell einen Führerschein und schraubtest nach Feierabend an deinem Auto rum.

Ich wurde 14 , begann die Pille zu nehmen und hatte die Drogen eingeschränkt, dafür soff ich immer öfter.

Unser letztes Telefonat. Wir stritten uns. Im Hintergrund rief deine Mutter. Mehrmals. Ihr musstet zu irgendeiner Behörde.

Ihr seid nie angekommen. Eins der vielen grösseren Autos, die es auf dem Dulsberg gehäuft gab, nahm euch die Vorfahrt. So wurde es mir erzählt.
Ihr sollt sofort tot gewesen sein, wurde mir erzählt.

Das einzige Mal in meinem Leben begann ich mitten auf der Straße zu schreien. Schrie und schrie, kapierte erst wieder etwas, als ich in der Wohnung einer Freundin der Kollegen war.

Fuhr dann wie betäubt zu meinen Eltern, reden konnte ich mit niemandem.

Ich erfuhr noch, dass es keine Beerdigung geben würde, da keine Angehörigen da seien. Und ein anonymes Grab.Sprich: Kein Grab zum Besuchen, keine Trauerfeier. Nichts.

Würdet ihr beide noch leben, wenn wir uns nicht vor dem Unfall gestritten hätten? Dieses Schuldgefühl begleitete mich viele Jahre.

Eben schaute ich nach draussen. Der Hamburger Himmel ist grau. Es ist kalt und frisch.

Die Frage liesse sich auch- anders stellen: Würden beide noch leben, wenn ich heftiger und länger gestritten hätte? Dann wäre der andere Wagen ja schon vorbei gefahren.

Und: Karin und Rene waren Perlen in dieser Gegend- hätten sie es bleiben können?

Rene war 18, seine Mutter unter 40, ich war 14.

Steckt nicht auch eine große Arroganz dahinter, vermeintlich beurteilen zu können, ich hätte durch einen simplen Streit etwas verursacht, was nicht hätte sein sollen?

Ich weiß es nicht. Bis heute nicht.Ich möchte mich nur von jedem, den ich liebe, immer so verabschieden, als sei es ein letztes Mal.