Gespräche am Feuer der Ältesten - Weltende
- Älterer Bruder, die Prediger der Wašíčuŋ sagen, dass das Ende der Welt nahe sei und ihre Leute sich auf den Tag des jüngsten Gerichts vorbereiten sollen. Glaubst du an ein Ende der Welt?Bruder, ein Gericht setzt voraus, dass jemand da ist, der richtet. Also offensichtlich eine „höhere“ Instanz, die die Macht dazu hat. Alle höheren Instanzen, die in verschiedenen Weltanschauungen vorausgesetzt werden, sind jedoch von Menschen erschaffen, fiktiv. Andernfalls müsste die Mehrheit langsam herausgefunden haben, welches die „richtige“, die „wahre“ höhere Instanz ist.
Ein Gericht setzt weiterhin voraus, dass es es etwas gibt, nach dem gerichtet und entschieden werden kann. Schuld oder Unschuld, gut oder böse, schwarz oder weiß.
Da es in unserer Tradition weder ein duales Weltbild gibt noch eine übergeordnete Instanz, muss ich mir keine Sorgen um eine Apokalypse machen.
Es gibt keinen Tod, nur einen Wechsel der Welten. Welchen Unterschied macht es, ob jeder Mensch irgendwann in seinem Kreislauf des Lebens individuell in die andere Welt geht, oder ob alle zur gleichen Zeit den Wechsel vollziehen?
Es gibt auch keine Schuld oder Unschuld, keine guten oder schlechten Taten, sondern nur Handlungen, die in ihren Auswirkungen für den Einzelnen unterschiedlich sind. Wer kann ihren übergeordneten Wert ermessen?
In der anderen Welt, wo nach der Überzeugung meiner Tradition alle Leiden geheilt sind, ist es unerheblich, was jemand in dieser Welt getan oder erlitten hat.
- Wie kommen die Wašíčuŋ darauf, dass es ein Weltgericht geben wird?
Die christliche Religion fußt auf einer eschatologischen Vision. Der Religionsgründer war anscheinend überzeugt davon, dass das Weltende noch in seiner Generation käme. Und in einem gewissen Sinn hatte er Recht, die Welt hat sich damals verändert, so, wie sie sich auch ca. 500 Jahre vorher verändert hatte, als überall auf der Welt unabhängig voneinander die großen Denker wie Gautama, Zarathustra oder Sokrates auftraten und auch ca. 500 Jahre später, als die Menschheit von der Antike ins Mittelalter schlitterte. Das Denken der Menschen hatte sich jeweils verändert und eine andere Lebenswelt entstand.
Allerdings haben sich seine Schüler das Weltende anders vorgestellt als es war und in den folgenden 2000 Jahren immer neue Korrekturen vorgenommen.
- Ich weiß, Bruder, und die Folgen waren verheerend.