Mit dem Thema "Tod und Sterben" habe ich mich aus der psychoanalytischen Perspektive recht intensiv befasst.
Meine Vermutung ist, daß beim Sterbevorgang zuallererst die Kraft der "Abwehrmechanismen" erlahmt und dem Bewußtsein zuvor verborgene Inhalte des Gedächtnisses - das Unbewußte eben - wieder bewußt werden. Wenn es Traumata sind, ist das unter Umständen ein schreckliches Erleben und eine Erklärung dafür, warum so manche Menschen eben wirklich einen "schrecklichen" Tot haben, der sich über viele Stunden und Tage hinziehen kann.
Die Psychoanalyse sieht die Psyche eben nicht als eine Art Monolithen an, sondern betrachtet sie als eine recht komplexe Organisation, in der das Bewußtsein zwar eine große Rolle spielt, aber bei weitem nicht die Bedeutsamste. Das Bewußtsein ist zudem überaus empfindlich, kann nur Reize bis zu einem gewissen Schwellenwert ertragen. Deswegen wird das Bewußtsein vor unerträglichen Reizen durch "Abwehrmechanismen" geschützt, die unerträgliche Gedächtnisinhalte auf verschiedene Arten und Weisen vom Bewußtsein fernhalten. In die Alltagssprache Eingang gefunden hat die "Verdrängung", bei der eine komplette Erinnerung ins Unbewußte verschoben wird, so daß ein "Filmriß" entsteht. Der erste Katalog, den Anna Freud in ihrem Klassiker "Das Ich und die Abwehrmechanismen" aufgestellt hat, umfasst rund ein Dutzend verschiedener solcher Mechanismen, über die der Artikel "Abwehrmechanismen" in der Wikipedia einen guten Überblick gibt.
Erinnerungen, oder deren Bestandteile, die ins Unbewußte verschoben sind, sind deswege aber nicht "einfach weg", sondern führen dort ein Eigenleben. Sie drängen ins Bewußtsein zurück - die Abwehrmechanismen stemmen sich dagegen. Das ist ein permanentes Ringen, das einen beträchtlichen Anteil unserer seelischen Energie in Anspruch nimmt. Wenn wir schlafen scheint die Kraft der Abwehrmechanismen regelmässig am geringsten zu sein: dann gelingt es nämlich den Inhalten des Unbewußten, in Form der Träume meist in verfremdeter Art und Weise wieder ein Stückweit ins Bewußtsein vorzudringen - meist jedoch in einer Weise, die wir regelmässig nicht erkennen und deuten können. Ursächlich dafür sind die "Traumarbeit" und die "Traumzensur", die nach ähnlichen Prinzipien zu funktionieren scheint, wie die Abwehrmechanismen beim Beseitigen überstarker Reize von aussen. Deswegen sind Träume psychoanalytisch deutbar - was allerdings eine hoch anspruchsvolle Angelegenheit ist. Die Anzahl der Traumsymbole ist Legion und eine seriöse Deutung eines Traumes setzt auch eine weitgehende Kenntnis der Biographie des Träumenden voraus. Einen reinen Trauminhalt nur aus sich selbst heraus zu deuten ist mir selbst jedenfalls regelmässig nicht möglich.
Ich vermute nun, daß beim Sterbevorgang die Psyche über eine erhebliche Zeitspanne in einen Zustand gerät, der dem Träumen sehr nahe ist, die Inhalte des Unbewußten also wieder zu Bewußtsein treten könnnen - aber eben nicht stets als "photographisches" Abbild eines Erlebten, sondern eben auch in verfremdeter Form. Wenn hier beispielsweise des öfteren von Schwebezuständen oder Fliegen die Rede war: das ist ein "klassisches" Symbol für den Wunsch, sich einer angst- oder unlustvollen Situation durch Flucht entziehen zu wollen - aber an dieser Flucht sieht man sich gehindert. Oftmals ist man sogar schon daran gehindert, den Wunsch, sich einer ungeliebten Situation entziehen zu wollen, bewußt werden zu lassen - wenn dieser Wunsch zB unmoralisch ist, wie zB der Wunsch eines Elter, sich der Verantwortung für die dauernd nervigen Kinder zu entziehen.
Natürlich lässt sich aus der psychoanalytischen Perspektive alleine nicht erklären, welche neurobiologischen und hirnphysiologischen Ursachen dieses Nachlassen der Kraft der Abwehrmechanismen beim Sterbevorgang haben - aber es ist ohne weiteres vorstellbar, daß diese Vorgänge auch dann stattfinden können, wenn der Organismus in einen Zustand gerät, der dem Sterben sehr nahe kommt, ohne daß jedoch der Tod selbst eintritt, die Gesundheit widerhergestellt wird. Das sind ja in aller Regel höchst angstvolle, unlustvolle Zustände - "Krisen", denen man nur allzugerne entfliehen will - aber ja "aus der Natur der Sache" nicht entfliehen kann - woraus dann dieser "Traum vom Fliegen" oder schweben werden kann. Insofern bin ich recht nahe an der Vermutung der threadstarterin in ihrem Startpost: psychoanalytisch gesehen sind es wirklich Träume - aber diese Träume sind keineswegs "Schäume", irreale Phantasieprodukte - sondern (regelmässig verfremdete) Erinnerungen an reale Tatbestände.
Ich vermute auch, daß die religiöse Vorstellung vom "Jüngsten Gericht" nichts anderes ist, als eine kulturelle Projektion dieses Prozesses beim Sterben: das Bewußt-Werden des Unbewußten, wenn sich der Sterbevorgang über eine hinreichende Zeitspanne erstreckt. Da unsere Zeitwahrnehmung jedoch eine relative ist, also die Wahrnehmung zeitlicher Abfolgen nach Art einer Zeitlupe oder eines Zeitraffers verlangsamt oder beschleunigt werden kann, wie jeder von uns beim Zahnarzt oder beim Sex schon erlebt haben wird, kann eine Spanne von einigen Stunden völlig ausreichen, um die ins Unbewußte verschobenen, "verdrängten" unliebsamen Erinnerungen eines ganzen Lebens "wiederzuerleben". Wer, wie man so schön sagt: "mit sich selbst im reinen ist" - für den kann das Sterben folglich ein "schöner Tod" werden, ein ruhiges und gelassenes "entschlafen", nachdem das Wenige, was sich aus dem Unbewußten "zurückgemeldet" hatte, problemlos "integriert" werden konnte.
Und genau dies kann bei einem Nahtod-Erleben schon teilweise begonnen haben.