Natürlich ist es einfach (opportun ist dann doch nochmal was anderes), im Nachhinein zu sagen "das wär nicht nötig gewesen". Wenn man zum Zeitpunkt der Entscheidungen die Zahlen nicht hatte, die man heute hat.
Ich kann ja nur meine Meinung bzw. meine Wahrnehmung darlegen.
Wir hatten spätestens Anfang bis Mitte März eine Situation, in der wohl so ziemlich jedem Politiker klar geworden ist, dass wir dieses Virus im Land haben (bei manchen hat es länger gedauert, da wurden noch Kommunalwahlen abgehalten...). Ein Virus, von dem wir noch so gut wie nichts wussten. Klar war, es ist ein Corona-Virus, da fragt man vielleicht am besten denjenigen hier im Land, der sich mit Corona-Viren echt gut auskennt. Das ist nunmal Drosten.
Zur gleichen Zeit hatten wir furchtbare Bilder aus Italien und besonders hier in der Gegend aus dem Elsaß. Überlastete Krankenhäuser, völlig fertige Mitarbeiter (Ärzte, Pfleger) und ja, Triage. Das wollte hier niemand, mich eingeschlossen. Also haben wir als erstes große Veranstaltungen abgesagt, Abstandsregeln eingeführt, die Bevölkerung über Hygienemaßnahmen aufgeklärt. Alles absolut richtig und sinnvoll.
Selbst der Shutdown, der ja eigentlich keiner ist, wie so mancher hier schreibt (wie nennt man denn dann das großlächige Lahmlegen ganzer Branchen?), war meiner bescheidenen Meinung nach richtig. Denn es ging um das übergeordnete Ziel, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, die Triage zu verhindern. Dann wurde in einer unglaublichen Geschwindigkeit die Zahl der Intensivbetten erhöht, sowohl durch Ausbau als auch durch das Verschieben von Operationen. Das ganze Land hat sich vorbereitet auf das Schlimme, was da kommen könnte. Und ich bin sehr froh darüber, dass es nicht kam.
Nur dann fing es für mich persönlich an, ungut zu werden.
Anfangs war da sehr viel Unwissenheit, kaum Kenntnis über das Virus und die Erkrankung und deren Folgen (ich weiß,
@****in wusste das schon früher und vielleicht hätten unsere Politiker das auch wissen müssen). Da war Vorsicht auch gut und angebracht. Und die Maßnahmen, die hier im Thread von Vielen als gar nicht so einschneidend empfunden werden, waren notwendig. Unter Anderem, weil wir nicht in der Lage waren, uns ausreichend anderweitig zu schützen. Wir hatten keine Masken, wir hatten keine App und wir hatten viel zu wenig Information und vor allem hatten wir von Anfang an keinen Plan.
Jetzt haben wir die erste Mai-Woche hinter uns und es scheint immer noch an allem zu fehlen. Nur, inzwischen haben wir andere Zahlen. Es gibt jetzt empirische Daten anstatt nur Modellrechnungen. Wir haben viele Ziele, wie sie von der Politik definiert wurden, erreicht. Dann wurden andere Ziele angegeben, immer noch ohne dabei Perspektiven aufzumachen. Ich habe bis jetzt noch nicht verstanden, was unsere Regierung eigentlich will. Wollen wir das Virus eindämmen, ausrotten, mit ihm leben oder auf den Impfstoff warten, von dem wir nicht wissen, wann er kommt? Was bitte ist denn die "neue Normalität" und wie lange soll die anhalten?
Ich sehe nicht, dass wir einen einzigen Schritt weiter wären.
Es wird immer noch ein Worst-Case-Szenario propagiert, das sich auch immer wieder ändert. Jetzt ist es nicht mehr die Triage, wir hatten schließlich nie eine Überlastung des Gesundheitssystems. Jetzt ist es die zweite Welle. Oder auch die dritte. Vor allem stehen wir aber immer noch am Anfang der Pandemie...
Selbst das RKI scheint nicht mehr zu wissen, wie sie die Zahlen schlecht reden sollen, damit die Leute bitte weiterhin Angst haben. Dass das funktioniert, sehe ich jeden Tag an unseren Lieben.
Dabei werden zahlreiche renommierte Wissenschaftler völlig ignoriert, zum Teil diffamiert und als Verschwörungstheoretiker in die falschen alternativen Medien getrieben. Was nicht ins Bild passt, wird mundtot gemacht oder eben in eine Ecke geschoben, in die es nicht gehört.
Fast alle MPs reagieren inzwischen auf den Druck der Wirtschaft, auf diverse Lobbyisten und vor allem auf die Kommunen, die auch so langsam merken, dass ihnen das Geld ausgeht. Scheinbar schwant so langsam allen, dass das alles ernsthaft Geld kostet. Und dass man die 10 Millionen Kurzarbeiter nicht bis zum Impfstoff finanzieren kann. Wann immer der auch kommt.
Dass dabei zahlreiche Betriebe insolvent gehen und damit die Arbeitslosenquote steigt, die gerade mit der Kurzarbeit einfach nur verzögert wird.
Dass es keinen übergeordneten Plan gibt, immer noch nicht, merken so langsam alle Landesregierungen, also machen sie ihre eigenen.
Ja, es ist billig, jetzt zu sagen: "ihr hättet es früher wissen müssen". Genauso billig ist es aber, zu sagen "nur weil wir so agiert haben, haben wir das Schlimmste verhindert". Denn beide Seiten könnten Recht haben. Wir wissen es einfach nicht. War der Lockdown notwendig? Aus heutiger Sicht eher nicht. War er in dem Moment sinnvoll? Ich glaube schon.
Aber: es gab scheinbar von Anfang an keinen Plan wieder raus. Es gab scheinbar auch keine Abwägung, was das kurz-, mittel- und langfristig bedeutet. Soweit ich das sehe, hat sich die Regierung recht einseitig von Virologen und Epidemiologen beraten lassen, und keinem würde ich die Kompetenz absprechen.
Nur, vielleicht hätte man mal die ein oder anderen Sozialwissenschaftler, Ökonominnen, Pädagogen, Psychologinnen oder auch einfach mal den einfachen Soloselbständigen oder die Handwerkerin zu Rate ziehen sollen.
Ich glaube, und das ist einfach nur mein Eindruck... unsere Regierung hat sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass dieses Virus nicht so gefährlich ist, wie es das Worst-Case-Modell annimmt. Dass andere Maßnahmen angebracht wären, aber immer noch nicht gewährleistet werden können. Ich glaube, dass derzeit die mittelbaren Todesfälle im Vordergrund stehen, denn die sind mit der eigenen Amtszeit verknüpfbar. Unmittelbare Tode sind das nicht... Die kann man über Jahre hinweg in Kauf nehmen, denn sie sind nicht mit der eigenen Entscheidung direkt verknüpft.
Ich glaube auch, dass unsere Regierung inzwischen durch gerechnet hat, dass wir nicht bis zu einem Datum X (Impfstoff) ganze Branchen subventionieren können. Deshalb ändert sich inzwischen auch das Framing: das Virus ist Schuld an der Weltwirtschaftskrise. Nicht die Politik. Und der Gesundheitsminister (für den könnte ich einen eigenen Post schreiben...) kündigt jetzt schon an, dass wir uns einiges zu verzeihen haben werden...
Ich kritisiere nicht die Maßnahmen, an die ich mich by the way auch halte, ich kritisiere die Haltung der Regierung. Das Ignorieren anderer Daten, die Intransparenz bezüglich der Strategie. Und ich kritisiere das Schüren von Angst, weil es mir Angst um unsere Gesellschaft macht. Und ich kritisiere, dass offenbar länger darüber debattiert wird, wie viele Menschen aus wie vielen Haushalten ich treffen darf (wtf!) als darüber, wie wir gottverdammtnochmal die Kinder wieder in ihre notwendige Sozialisation und Bildung bringen können. Ich rege mich schon wieder auf...
Was passiert wohl mit einer Gesellschaft, wenn jeder andere Mensch, egal ob enger Freund oder Fremder, ein potenzielles Gesundheitsrisiko ist? Auch dazu gibt es empirische Daten, allerdings nur auf eine wie auch immer geartete Personengruppe bezogen.
Das Resultat nennt sich dann gemeinhin Diskriminierung. Was passiert, wenn jeder jeden diskriminiert?
Aber es ist wichtiger, darüber zu debattieren, ob die Bundesliga jetzt diesen Monat wieder spielen kann. Und die Automobilbranche braucht dringend Hilfe, während kleine und mittelständische Betriebe immer noch nicht wissen, wie es weiter gehen soll. Die einen zahlen Boni und Dividenden auf Staatskosten aus, die Anderen beantragen Hartz4.
Und bei all dem vergessen wir gerne die Obdachlosen, die derzeit nicht duschen können. Die Armen, die nicht zur Tafel können, weil da keiner ist. Die vielen und immer (auch aufgrund ihrer finanziellen Situation) mehr werdenden Depressiven, die noch länger auf einen Termin warten müssen...
Das kritisiere ich.
Die Konzeptlosigkeit, das Fehlen irgendeiner Strategie. Ein wie auch immer gearteter Plan B zum Impfstoff (von dem wir einfach nicht wissen, ob oder wann er kommt und ganz ehrlich... wenn der nicht safe ist, nehm ich persönlich lieber die Krankheit in Kauf).
Mir machen die Folgen der derzeitigen Politik mehr Angst als das Virus.
Sperling