Geteilte Gesellschaft
Es steht nicht gut um die Sache der Freiheit. Nicht wegen des lästigen Mund-Nasen-Schutzes, mit dem wir einräumen müssen, eines winzigen Virus nicht Herr werden zu können. Auch nicht wegen diverser anderer (hoffentlich vorübergehender) Beschwernisse in unserer liberalen Demokratie. Nicht einmal wegen ein paar Reichskriegsflaggen auf den Stufen des Deutschen Bundestages oder grassierender Verschwörungstheorien. Worüber wir uns wirklich Sorgen machen müssen, ist das angegriffene Immunsystem der Gesellschaft. Es ist die Summe der Attacken, Fehlentwicklungen und Irritationen, die ihre zersetzende Wirkung entfaltet und die Gesellschaft angreifbar macht.
Demonstrationen wie die in Berlin, Stuttgart oder anderswo übertönen mit ihrem Krakeelen im medialen Scheinwerfer grell die leisen Veränderungen, die in Summe nachhaltig wirken könnten. Spürbar werden die vor allem im privaten Umgang. Er ist anstrengender geworden, manchmal geradezu befangen. Wenn scheinbar vernünftige Menschen einen mit Zweifeln überraschen, ob die Demokratie noch die richtige Gesellschaftsform sei, um die Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen, dann sollten Demokraten aufhorchen. Wenn (nicht nur) junge Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben vor geschlossenen Grenzen stehen oder sich in ihrem als unangreifbar empfundenen Recht, Freunde zu treffen und das Leben zu genießen, unerträglich gebremst fühlen, dann sollte das Demokraten fragen lassen, ob sie die prinzipielle Verletzlichkeit offener Gesellschaften ausreichend vermittelt haben. Und wenn scheinbar vernunftbegabte Menschen hinter allen Fehlentwicklungen und Katastrophen finstere Pläne mächtiger Schurken wittern, dann sollten Demokraten darüber nachdenken, ob wir nicht einer falsch verstandenen Perfektion hinterherrennen. Menschen sind fehlbar. Das Leben ist nicht planbar, Umwelt, Natur und Technik sind nicht vollständig beherrschbar.
Ja, hier zeigen sich auch Ohnmachtsgefühle. Wobei die tatsächlich abgehängten Gruppen nicht die sind, die den Protest ausmachen. Dort dominieren Bürgerschichten, die sich aus ihrer privilegierten Konsumentenrolle aufgeschreckt fühlen. Nicht umsonst liegt ein Epizentrum in Baden-Württemberg, dem Bundesland in dem ich lebe, im mittleren Neckarraum, dem Musterländle des Nachkriegswirtschaftswunders. Viele Protestierende erwarten vom Staat alles, trauen ihm aber nicht über den Weg. Sie wissen alles besser, wollen aber mit nichts behelligt werden. "Halt Du Staat, haltet ihr Politiker mir den Rücken frei, ansonsten wollen wir mit euch nichts zu tun haben". Corona ist, so betrachtet, eine Zumutung, so wie die Flüchtlinge 2015 oder die Schummelsoftware im auf Pump gekauften Familiendiesel. Ein funktionierender Staat müsste einen davor gefälligst bewahren. Wofür geht man schließlich wählen und bezahlt Steuern?
In die Empörung darüber mischt sich auch ein Erschrecken. Darüber dass der Mensch seine Fähigkeit überschätzt, Individuum zu sein. Er strebt nach Unabhängigkeit und bedarf doch der Gemeinschaft und ihrer Regeln. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck sprach von der Verantwortung als Freiheit der Erwachsenen, der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf über die "ärgerliche Tatsache der Gesellschaft". Daran gerieben haben sich viele schon vor Corona. Der gesellschaftliche Zusammenhalt war schon geschwächt, Politikerverachtung weiter verbreitet, als viele wahrhaben wollen. Der Virus, das zeigt auch eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, hat sogar eher ein neues Gemeinschaftsgefühl ausgelöst, zugleich aber vorhandene Ängste verschärft.
Diese Solidarität wächst auf dünnem Eis, sagen Verhaltensforscher. Die meisten Menschen sind demnach nämlich im Grundsatz kooperativ, reagieren aber äußerst gereizt, wenn sie das Gefühl haben, für dumm verkauft zu werden. Und dazu gab es in den vergangenen Jahrzehnten genügend Anlass. Die Listen des Fehlverhaltens von wichtigen Teilen der Eliten in Wirtschaft, Politik und Medien ist lang. Hinzu kam: In einer global vernetzten Welt fallen immer mehr Entscheidungen in Gremien, die demokratisch nicht transparent legitimiert sind. Das schürt Misstrauen. Und nun kam ausgerechnet Corona. Beim Umgang mit einer solchen Herausforderung sind Irrtümer und Fehler unvermeidlich. Da kann man schon mal kirre werden und nach finsteren Mächten suchen, die mit ihrem angeblichen Weltmachtstreben dem realen Wahnsinn zumindest eine scheinrationale Begründung geben würden. Jeder Dritte hält das nach einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung mittlerweile für realistisch oder ist sich dessen sogar sicher, 56% sind es unter den Anhängern der AfD. Die Liste der möglichen Schurken ist dabei so vielfältig wie erwartbar.
Zu beobachten sind derzeit mannigfaltige Absatzbewegungen. Die einen liebäugeln mit dem weisen Diktator, wollen auf Freiheit verzichten, damit die vielen ungelösten Probleme endlich gelöst werden. Dass dies ein ebenso alter wie gefährlicher Irrglaube ist, scheint aktuell kaum zu vermitteln zu sein. Andere suchen nach scheinbar heilen, in sich geschlossenen Gemeinschaften, und sind für deren Risiken und Nebenwirkungen blind. Viele ziehen sich in die Scheinfreiheit von Konsumenten zurück oder in den Schein ihrer häuslichen Idylle. Wieder andere flüchten ins trotzig Libertäre, ein hilfloser Versuch, die Gesellschaft als ärgerliche Tatsache einfach abzustreifen. Und manche schließlich verzweifeln in ihrer Überzeugung, von finsteren Mächten verkauft zu werden.
Dass die große Mehrheit der Bevölkerung derzeit hinter der Regierung steht, wie Demoskopen immer wieder zu messen meinen, sollte Demokraten nicht in falscher Sicherheit wiegen. In offenen Gesellschaften - nicht nur in Deutschland - wirken derzeit gewaltige Zentrifugalkräfte. Die müssen wir ertragen, wir müssen aber auch dafür arbeiten, dass sie erträglich bleiben. Auch wenn das nervt und anstrengt. Gelassenheit ist nur dann eine Stärke, wenn sie wachsam ist. Wohin es führen kann, wenn sie schlafmützig oder überheblich wird, sollten gerade wir Deutschen gelernt haben.