Titelseite der New York Sun, 1897,
Redakteur: Francis Pharcellus Church
Es ist uns eine Freude, von so kompetenter Stelle den folgenden Brief beantworten zu können. Damit möchten wir gleichzeitig unsere Dankbarkeit ausdrücken, die verehrte Autorin zum Kreis der Freunde unserer Zeitung „The Sun“ zählen zu dürfen:
„Lieber Redakteur! - Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt immer: ‚Wenn es in ,the Sun' steht, dann ist es wahr’. Bitte, sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?" Virginia O'Hanlon
„Virginia, deine kleinen Freunde haben nicht Recht. Sie haben sich anstecken lassen vom Zweifel eines zweifelnden Zeitalters. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, dass es nicht geben kann, was sie mit ihrem begrenzten Verstand nicht erfassen können. Aber der menschliche Verstand ist immer begrenzt, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Vor unserem großen Universum ist der Mensch nur ein winziges Insekt. Verglichen mit der grenzenlosen Welt um uns herum ist sein Verstand wie eine Ameise, wie könnte er in der Lage sein, die ganze Wahrheit und das ganze Wissen zu erfassen!
Ja, Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiss wie die Liebe, die Großzügigkeit und die Begeisterung, und du weißt ja, dass das Leben voll davon ist und gerade diese Dinge wirkliche Schönheit und Freude in dein Leben bringen.
Wie trübsinnig wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es wäre so trübsinnig, als wenn es keine Virginias gäbe! Es gäbe dann auch kein kindliches Vertrauen, keine Poesie – nichts von dem, was das Leben erst erträglich macht. Wir dürften uns nur noch freuen über das, was wir sehen und anfassen können. Aber das besondere Licht der Kindheit, das die Welt erhellt, müsste verlöschen.
Nicht an den Weihnachtsmann glauben! Dann könntest du ebenso gut nicht an Märchen glauben. Gewiss, du könntest deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen, aber auch wenn keiner von ihnen den Weihnachtsmann zu Gesicht bekäme - was würde das beweisen? Niemand sieht den Weihnachtsmann, aber das bedeutet nicht, dass es ihn nicht gibt. Die aller wirklichsten Dinge des Lebens sind die, die weder Kinder noch Erwachsene mit ihren Augen sehen können. Hast Du schon einmal gesehen, wie Elfen auf der Mondwiese tanzen? Natürlich nicht, aber das ist kein Beweis, dass sie nicht dort sind. Die Wunder der unsichtbaren Welt – wer kann sie alle wahrnehmen, wer kann sie sich auch nur vorstellen?
Du kannst eine Babyrassel aufbrechen, um zu sehen, was das Geräusch da drinnen macht – die unsichtbare Welt aber ist mit einem Schleier verhüllt, mit einem Schleier, den nicht der stärkste Mann, nicht einmal die vereinigte Kraft der stärksten Männer, die je gelebt haben, zerreißen kann. Nur Glaube, Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die überirdische Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein. „Ist das denn auch wahr?“ Oh, Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger.
Kein Weihnachtsmann! Gott sei Dank: Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehn mal zehntausend Jahren wird er da sein, um das Kinderherz mit Freude zu erfüllen.“