Geschichte III
Seepferdchenzauber
„Einhorn.“ „Pegasus!“ „Bergtroll.“ „Elfen.“ „Einhorn.“ „Zentauren.“ „Seepferdchen“ In der Klasse war es auf einen Schlag mucksmäuschenstill und alle wandten sich zu Anneliese. Dann brach schallendes Gelächter aus.
Anneliese ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und wiederholte laut: „Seepferdchen!“
Dann begannen die Schüler der vierten Klasse durcheinander zu reden. „Seepferdchen sind doch keine magischen Wesen.“ „Na klar. Der Weihnachtsmann wohnt auch mit seinen Elfen am Nordpol.“ „Mein Hund ist eigentlich Batman.“ „Babys werden vom Storch gebracht.“ Jeder neue Kommentar wurde immer absurder und beschwor neue Lachsalven hervor. „Ruhe Kinder!“ Frau Holz, die Lehrerin, schaffte es mit Mühe die Schüler wieder zur konzentrierten Mitarbeit zu bewegen. „Warum sind denn Seepferdchen keine magischen Wesen?“, wollte sie wissen. „Weil wir sie sehen können. Ich hab nämlich schon mal welche im Zoo gesehen“, antwortete Alex. „Und es sind ja auch noch nicht mal richtige Pferde sondern Fische“, ergänzte Christin, „ Wenn es Pferde wären, könnten sie nämlich auch wiehern.“
Trotzig verschränkte Anneliese die Arme vor der Brust. „Seepferdchen können sehr wohl wiehern.“ So leicht gab sich Alex nicht geschlagen: „Pha. Du hörst bestimmt auch Schmetterlinge lachen.“
Anneliese streckte ihm die Zunge raus. „Nur weil du sie noch nicht wiehern gehört hast, heißt es nicht, dass sie es nicht können. Das Wiehern von Seepferdchen erinnert allerdings auch nicht wirklich an das Wiehern von Pferden. Zum einen sind sie ja unter Wasser. Dadurch hat es einen blubberigen Unterton. Trotzdem ist es dem Wiehern ihrer Vierbeinigen Verwandten nicht unähnlich. Aber der größte Unterschied ist, dass jedes Seepferdchen einen ganz einzigartigen Klang hat. Bei manchen klingt es nach Glocken. Andere erinnern an Geigen. Wieder andere schmecken nach Honig oder flüssiges Karamell. Es gibt sogar welche, die reichen nach einem Sommerregen oder Wintertag.“
In der Klasse war still geworden. Alle hörten aufmerksam Anneliese zu.
„Na klar! Und dann behauptest du wohl auch noch, dass sie die liebsten Spielgefährten der Meerjungfrauen sind.“ Alex fand das alles ziemlich weit hergeholt. Anneliese erzählte aber mit leuchtenden Augen weiter. „Natürlich haben nicht alle Meerjungfrauen ein Seepferdchen zum Freund. Aber in Atlantis lebt das Meervolk mit den Seepferdchen zusammen.“ „Oh je. Jetzt dreht sie völlig ab“, flüsterte Christin leise.
„Die Seepferdchen sind sehr hilfsbereit und übernehmen dort alle möglichen Jobs. Einige passen auf die Meerkinder auf. Andere ziehen die königlichen Kutschen, wenn die Prinzessinnen einen weiten Ausflug machen wollen - Die Seepferdchen haben nämlich eigene Wasserbahnen, das ist sowas wie die Autobahnen bei uns, die nur sie benutzen können. Es gibt sogar Wasserbahnbahnhaltestelle, wo man regelmäßig Wasserbahnbahnen halten.
Und es gibt auch Briefpferdchen, die Nachrichten überbringen – am Liebsten überbringen sie Liebesbriefe. Drohbriefe überbringen sie gar nicht.
Die temperamentvollen sind für das ruhige Leben in Atlantis nicht gemacht. Für sie ist die Stadt einfach zu einengend. Sie haben mehr Spass an Abenteuern. Mit ihnen kannst du die dunkelsten Ecken der Meere erkunden. Sie sind nämlich trotzdem lieber in Gesellschaft. Einige der Freigeister werden, wenn sie älter werden, Wachen in der Stadt. Die nehmen nämlich nur taffe Seepferdchen in ihre Reihe auf. Und sie müssen auch ein eindringliches Wiehern haben.“
„Boah, Anneliese. Jetzt hör doch auf solche Märchen zu erzählen.“ Alex ging diese ganze Geschichte tierisch auf den Keks. Für ihn waren Seepferdchen ganz normale Tiere. Keine Wesen mit magischen Kräften. Und Meerjungfrauen gab es ja wohl schon gleich dreimal nicht.
„Das sind keine Märchen! Ich hab das selber gesehen!“
„Du… hast… das… selber… gesehen?“ Alex war sprachlos.
Anneliese platzte heraus: „Ja. Letzten Sommer.“ Dann wurde sie still.
„Erzähl schon“, löcherte Christin, „was ist passiert?“
Anneliese seufzte, dann erzählte sie:
„Wir waren im Sommer an der griechischen Küste. Vom Strand aus konnte man eine kleine Insel sehen. Meine Schwester erzählte mir, dass sich dort bei Vollmond die Nixen treffen. Als dann Vollmond war, wollte ich das natürlich mit eigenen Augen sehen und bin mit einem kleinen Boot rübergerudert. Was ich da gesehen habe, war so wunderschön. Das Wasser war kristallklar. Unter der Oberfläche funkelte es, als ob die Sterne ins Meer gefallen sind. In diesem glitzernden Licht konnte ich die Seepferdchen sehen. Große und Kleine. In allen möglichen Farben und Mustern. Die meisten haben getanzt. Aber ein paar waren auch an die Oberfläche geschwommen und schauten, mit ineinander verschlungenen Schwänzchen, in die Sterne…“, Anneliese kicherte, „Naja, meistens haben sie sich doch nur verliebt angeschaut. Dabei haben ihre Augen geleuchtet.“ Hier seufzte Anneliese. „Es war einfach magisch. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden bis ich plötzlich hinter mir eine Stimme hörte. Ich erschrak total und drehte mich zu der Stimme um. Jedoch verlor ich dabei das Gleichgewicht, stolperte und fiel ins Wasser. Dabei stieß ich mir den Kopf am Boot an und mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, blickte ich in das Gesicht eines Mädchens. Sie war ungefähr in meinem Alter und hatte leuchtend lila Haar. Also nicht nur ein lila, sondern so ziemlich jede Art von lila die es gibt. Und ihre Augen waren so blau wie das Meer. „Endlich bist du wieder wach. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich wollte dich nicht erschrecken. Wirklich nicht. Kannst du mir verzeiehn?“ Ich sags euch. Dieses Mädchen redete wie ein Wasserfall. Ich versuchte sie zu beruhigen. Da sie mich aber nicht zu Wort kommen ließ, stellte ich auf Durchzug und schaute mich um. Ich lag in einem geräumigen Zimmer auf einem Bett. Und mitten in dem Zimmer schwebte ein Seepferdchen. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Ich schaute weg… wieder hin. Und es schwebte immer noch. Ich versuchte nochmal das Mädchen zu unterbrechen: „Ähhh, siehst du das Seepferdchen auch?“ Sie warf nur einen kurzen Blick zu ihm. „Das ist Mike. Er ist ein bisschen schüchtern. Aber eigentlich ein netter Kerl. Und er hat dich gerettet. Aber er hat nicht so viel Erfahrung mit der Heilung von Menschen. Deswegen haben wir dich her gebracht, damit sein Onkel dich nochmal durchcheckt. Aber er meinte, dass Mike ganze Arbeit geleistet hat. Das Aufwachen müsstest du alleine hinkriegen. Was du ja auch geschafft hast, sonst könnten wir nicht miteinander reden. Und er hat gesagt, dass du unheimliches Glück hattest, da Seepferdchen nur Wesen mit reinem Herzen heilen können. Da du aber geheilt werden konntest bist du wohl...“ Naja, mehr hab ich nicht mehr mitbekommen, weil ich mir das Mädchen während ihrem Wortschwall näher angeschaut habe. Sie hatten einen ganz normalen Oberkörper. Aber statt Beine hatte sie einen Fischschwanz und ich konnte sie nur noch anstarren.“
Jetzt lachte Alex laut auf. „Na klar. Du fällst aus dem Boot, stößt dir den Kopf und eine Meerjungfrau rettet dich. Und wie konntest du unter Wasser atmen?“
„Tessa, so hieß das Meermädchen, hat mir später erklärt, dass Menschen für eine begrenzte Zeit unter Wasser Atmen können, wenn sie von Seepferdchen auf die Stirn geküsst werden.
Auf jeden Fall hat mich der Onkel von Mike dann nochmal durchgecheckt. Nachdem von ihm bestätigt wurde, dass ich wieder fit bin, wollte mir Tessa Atlantis zeigen.
Ihr Vater schickte mich allerdings nach Hause, damit sich meine Eltern keine Sorgen machen. Tessa und ich haben uns dann aber jeden Tag getroffen. Sie hat mir Atlantis und ihre Lieblingsorte gezeigt. Wir sind mit den Seepferdchen durch die Wellen geritten und haben ihren Gesängen gelauscht.“
Anneliese verlor sich in Erinnerungen. Alex stieß ein abfälliges Lachen aus. Anneliese fuhr ihn an.
„Glaub es oder nicht: Seepferdchen sind magisch.“
Christin seufzte. „Auf jeden Fall ist das eine wunderschöne Geschichte.“
Bevor es zu weiteren Diskussionen kommen konnte, erklang die Schulklingel zum Schulschluss. „Macht euch bis morgen bitte Gedanken, welchem magischen Wesen ihr gerne begegnen würdet und warum“, ertönte die Stimme von Frau Holz bevor die Kinder aus dem Zimmer stürmen konnten. „Anneliese, kommst du bitte nochmal kurz zu mir.“
Das Mädchen trat zum Pult der Lehrerin.
„Ach Anneliese. So schön diese Geschichte auch ist, vielleicht solltest du sie nicht in aller Öffentlichkeit erzählen.“
„Aber wenn es doch wahr ist!“
„Ich habe nicht behauptet, dass du lügst. Aber es hat seinen Grund, dass Seepferdchen nicht als magische Wesen bekannt sind. Die Menschen würden sie jagen und für ihre Pläne missbrauchen.“
Anneliese schaute erschrocken. „Daran habe ich gar nicht gedacht.“
Frau Holz lächelte mild. „Das habe ich gemerkt. Versprich mir bitte, dass du darüber nur noch Freunden sprichst, denen du wirklich vertraust.“
Anneliese versprach es und wand sich zum gehen. An der Tür rief Frau Holz sie nochmal zurück. „Ich würde mich freuen, wenn du mir bei Gelegenheit mehr von meiner Nichte Tessa erzählen würdest.“
Autor : @****aa