Sehr gern:
Wenn Stille singt…
Orientierungslos öffne ich die Lider. Ich kann unmöglich geschlafen haben, denn ich bin noch immer völlig erschöpft, doch der Schlaf widersteht mir seit unzähligen Nächten trotzig. Ich brauche eine Weile, bis sich meine Augen an die modrige Dunkelheit gewöhnt haben. Schwach kann ich weit über mir Baumkronen ausmachen, wie sie sich sanft in Fleisch und Knochen durchdringendem Wind wiegen, der mir erst jetzt auffällt.
Dieser Rabenwald schaut höhnisch auf mich herab; fast kann ich die schwarzen Vögel lachen hören, leise und boshaft.
Matt erhebe ich mich mit einem dumpfen Dröhnen im Schädel. Das graue, stoppelige Gras zu meinen Füßen scheint unter jeglicher Berührung zu leiden: es zieht sich sacht zurück und bekommt mehr und mehr Angst vor mir, so dünkt mir, denn die kahle Steinfläche, die es beim Zurückweichen freilegt, wird mit jedem meiner neugierigen Schritte größer, bis ich seinen Rand kaum noch ausmachen kann.
Als ich meinen ungläubigen Blick endlich von dem flüchtenden Graugras abwenden kann, bemerke ich nun die weite Ebene, die mich abseits des gehässigen Waldes trägt. Doch wo sind die Bäume? Hinter mir ragen nun hohe Mauern auf: kalt, karg und düster. Mein Suchen wandert gen Himmel: die Zinnen des schwarzen Walls sind jene mich verspottenden Wipfel. Ich bin irritiert, doch etwas zwingt mich, weiter zu gehen, fort von dem Gemäuer, das mich ebenso verwirrt wie das schwindende Gras.
Stickige Stille umfängt mich bleiern. Ich kann sie spüren, wie sie langsam über den Boden kriecht, meine frierenden Beine erklimmt und mich festzuhalten versucht, doch ich gehe weiter. Schemenhaft erkenne ich Steinblöcke, die asymmetrisch aufgestellt wurden und verwittert aussehen. Ich werde von ihnen angezogen, sie beschwören mich mit unhörbaren Stimmen.
Als ich den Ersten von ihnen erreiche, kristallisiert jeder Tropfen Blut meines zitternden Leibes. Es ist ein Grabstein, uralt und scheinbar aus einer längst vergangenen Ära. Auf ihm steht ein Name, der mir brennende Tränen in die Augen treibt. Blanke Angst bemächtigt sich meiner, denn ich weiß, daß dieses Grab leer sein muß. Muß es doch, oder?
Von wilder Panik getrieben stürze ich zum nächsten Stein. Wieder ein Name aus meiner blassen Vergangenheit, wieder ein Name, der dort nicht stehen dürfte… Ich gehe zu jedem einzelnen Grabmal bis mir aufgeht: dies muß wohl ein Friedhof sein - ein Friedhof meiner Lieben, denn hier liegen nur Menschen begraben, die ich liebte. Ich stehe wie gelähmt inmitten dieses unregelmäßigen Steinfeldes und kann nicht fassen, was mir meine Augen glaubhaft zu machen versuchen.
Hinter mir, aus Richtung des Waldes dringt beißendes Windgeheul an meine Ohren, es schreckt mich aus der Angststarre auf, kommt näher und ich erkenne: das ist nicht der Wind, das ist meine eigene Stimme! Sie formt Worte, die ich nie ausgesprochen habe, die nur in meinem Kopf existierten, doch sie nehmen Form an, greifen nach mir, zerren an meinen Haaren, schreien mir ins Gesicht und jagen mich unendlich viele Schritte quer durch das immer noch weichende Gras.
Als ich vollends ermattet zusammensinke, bemerke ich, daß ich exakt dort sitze, wo ich diese Stimmen zum ersten Mal vernahm. Bin ich nicht gelaufen oder rannte ich im Kreis? Doch nun sind sie abrupt verstummt, weshalb, weiß ich nicht.
Dort vorne schimmert etwas leis, nur ganz schwach, kaum wahrzunehmen. Wieder spüre ich diesen Drang, der mich lockt, nach mir verlangt. Zögernd, ängstlich gebe ich ihm nach, wandele beinah schwebend auf das Leuchten zu. Als ich näher komme, erblicke ich ein Pult mit einem dicken aufgeschlagenen Buch, das in tiefrotes, brüchiges Leder gebunden ist und sehr alt aussieht.
Ich schaue hinein: hier stehen genau diese Zeilen und mit jedem Gedanken werden es mehr.. Es ist, als schrieben sich meine Gedanken selbst auf, ohne Feder, ohne Tinte und doch werden es mehr und mehr Buchstaben, Silben und Worte. Sie quellen mir entgegen, reißen an mir, wispern und hypnotisieren mich…
Hastig lese ich, was sie sagen genauer, doch plötzlich sind es keine vergangenen Gedanken mehr. Es sind Dinge, die sich so nie manifestierten. Denke ich zumindest. Mir dämmert: es sind verdrängte Impulse, Ängste, Hoffnungen, Wünsche, die ich mir nie einzugestehen wagte.
Sie kochen über die Ränder der blendend weißen Seiten, ergießen sich wie heißes Kerzenwachs auf meine Füße, umschließen sie langsam, wachsen zu einem kleinen See heran und ziehen ich in die Tiefe. Ich sinke in Treibsand aus verwunschenen Gedanken, bis ich ganz darin verschwinde und das Letzte, was ich vernehme, ist wieder dieses leise, bissige Rabenlachen in der Blätterkrone, die das Pult überdacht…
Hoffentlich gefällt Euch die Welt, in die ich damit zu entführen versuche.
lächel
Cîl