PARABEL
Es ging ein Mann im Syrerland
Führt` ein Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
Urplötzlich anfing scheu zu werden
Und tat so ganz entsetzlich schnaufen,
Der Führer vor ihm mußt entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
Von ungefähr am Wege da.
Das Tier hört er im Rücken schnauben,
Das mußt`ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch.
Er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
Aus des geborstnen Brunnens Bauch;
Daran der Mann tat fest sich klammern
Und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh und sah
Dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
Das ihn wollt oben fassen wieder.
Dann sah er in den Brunnen nieder,
Da sah am Grund er einen Drachen
Aufgähnen mit entsperrten Rachen,
Der drunten ihn verschlingen wollte,
Wenn er hinunterfallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
Da sah der Arme noch das Dritte;
Wo in der Mauerspalte ging
Des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
Da sah er still ein Mäusepaar,
Schwarz eine, weiß die andre war.
Er sah die schwarze mit der weißen
Abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
Die Erd ab von der Wurzel spülten;
Und wie sie rieselnd niederrann,
Der Drach im Grund aufblckte dann,
Zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
Der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann in Angst und Furcht und Not,
Umstellt, umlagert und umdroht,
Im Stand des jammerhaften Schwebens,
Sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
Sah er ein Zweiglein, welches nickte
Vom Brombeerstauch mit reifen Beeren;
Da konnt` er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut
Und nicht den Drachen in der Flut
Und nicht der Mäuse Tückespiel,
Als ihm die Beer`ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen
Und unter sich den Drachen lauschen
Und neben sich die Mäuse nagen,
Griff nach den Beerlein mit Behagen.
Sie deuchten ihm zu essen gut,
Aß Beer auf Beerlein wohlgemut,
Und durch die Süßigkeit im Essen
War alle seine Furcht vergessen. –
Du fragst: Wer ist der töricht` Mann,
Der so die Furcht vergessen kann?
So wiß, o Freund, der Mann bist du;
Vernimm die Deutung auch dazu!
Es ist der Drach am Brunnengrund
Des Todes aufgesperrter Schlund;
Und das Kamel, das oben droht,
Es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist`s, der zwischen Tod und Leben
Am grünen Strauch der Welt muss schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
Dich samt den Zweigen, die dich tragen
Zu liefern in des Todes Macht,
Die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
Vom Abend heimlich bis zum Morgen.
Es nagt vom Morgen bis um Abend,
Die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
Lockt dich die Beere Sinneslust,
Daß du`s Kamel, die Lebensnot,
Dass du im Grund den Drachen Tod,
Dass du die Mäuse Tag und Nacht
Vergissest und auf nichts hast acht,
Als dass du recht viel Beerlein haschest,
Aus Grabes Brunnenritzen naschest.
Friedrich Rückert, 1822
Aus:“DIE SCHÖNSTEN GEDICHTE aus acht Jahrhunderten für Schule und Heim“
von Carl Stephenson, Gebrüder Weiss Verlag, Berlin-Schönberg, 1969; S 241