Ein Abend im Paradies mit Dir
„Hier drinnen halte ich es nicht mehr aus“, seufzt du, und ich nicke dir zu. „Du warst aber auch sehr fleißig heute, Liebes“, antworte ich ; „komm, lass uns ein wenig zum Meer hinunter gehen und unseren Hunger stillen“.
Die scheinbar unvergänglichen Sommertage sind längst bereits gezählt, und ich hole deine leichte Windjacke, deinen Labellostift und ein kleines Saftpäckchen, weil du vom Meereswind meist recht durstig wirst.
Wir schließen die alte Holztüre mit dem großen, unförmigen Schlüssel ab und durchqueren unseren verwunschenen Olivenhain Richtung Westen, von wo der laue Wind bereits das murmelnde Rauschen der Wellen heranträgt. Wir haben als Mittfünfziger ein wenig Mühe, uns durch die im vergangenen Frühjahr geschlagene Schneise hindurchzuzwängen, doch dann erreichen wir den uralten Pfad mit seinen vielen Kurven, auf denen schon vor Hunderten von Jahren fleißige Fischer ihre Abkürzung zum Hafen nahmen.
Als wir unten ankommen, ist der weite Strand längst menschenleer. Die abendliche Sonne hat viel von ihrer Strahlkraft eingebüßt und wärmt dennoch angenehm die Haut. „Wie wunderschön du aussiehst, mit deinem neuen Kopftuch vom Wochenmarkt in Siena!“ sage ich dir, als du stehen bleibst, mich umarmst und zärtlich küsst. Ein wenig muss ich schmunzeln, dass du wie am ersten Tage noch immer ein wenig verlegen wirst, wenn ich dir meine aufrichtigen Komplimente mache.
Du streifst deine cremefarbenen Sandalen ab, und wir schlendern langsam und eng umschlungen durch den noch warmen Sand. Über den bunten Fischerbooten, auf denen der alte Paolo mit seinen Söhnen heftig diskutierend die Netze flickt, kreisen schreiend hungrige Möwen. „Weißt du noch, Liebes“, frage ich dich, als wir an dem großen, duftenden Ginsterbusch angelangt sind und uns auf die ausgelaugte Holzbank setzen, „als wir beschlossen, dieses verwunschene alte Anwesen zu kaufen? Du suchtest es als neue Heimat für deine Seele, fern der lange beendeten Ehe, der quälenden Schmerzen, der verfolgenden Einsamkeit.“ Eine salzige Träne der Erinnerung fließt über deine weiche Wange, und ich küsse sie zärtlich mit meinen Lippen weg. Dein lockiger Kopf lehnt sich an meine Schulter, und ich spüre, dass du endlich den tiefen Frieden in dir gefunden hast.
Du nimmst einige Schlucke aus dem kleinen Saftpäckchen, und dann ziehen wir weiter. Es ist wundervoll, deinen betörenden Duft an meiner Seite zu spüren, den sanften Druck deiner gepflegten Hände, die gelegentlichen Berührungen deiner Hüfte an meiner. Kräftige Kiesel murmeln unter unseren Füßen, die sich nur noch mit dem leichten Schuhwerk betreten lassen. Von irgendwo her dringen beeindruckende Musikfetzen an unser Ohr, eine alte Arie aus einer Puccinioper, wie du mit deinem bewundernswerten Scharfsinn sofort erkennst. „Wie klug und gebildet sie doch ist“, denke ich voller Stolz.
Wir sind am pittoresken Hafen angelangt, wo die wenigen Bars gerade erst wieder geöffnet haben. Giuseppe unterbricht das Fegen der gemütlichen Terrasse seiner Osteria und begrüßt dich wie immer strahlend mit seinem anerkennenden „Mia bellissima Tedesca!“ und bietet dir den einzigen halbwegs sauberen Stuhl an. Schnell stehen unaufgefordert eine Flasche frischen Wassers mit Gläsern und zwei Viertel gut gekühlten Weißweins vor uns, den du so liebst. Eine Schale mit grünen und schwarzen Oliven, etwas von dem herben Schafskäse, ein Glas voller Grisini.
Du studierst neugierig die alte, abgegriffene Speisekarte, bei der sich seit unserer Ankunft vor fünf Jahren vermutlich nur die Preise änderten. Da du aus Eitelkeit deine Lesebrille "vergessen" hast, kannst du zwar nichts lesen, aber ich weiß ohnehin, was du wieder bestellen wirst. „Himmel, Goldschatz“, rufst du leise aus, „heute hätte ich mal wieder richtig Lust auf die genialen Lammkoteletts vom Grill mit frischen Speckbohnen“, und ich muss schmunzeln über das Eintreffen meiner Ahnung.
Und es schmeckt wirklich wieder einmal unbeschreiblich lecker. Der milde im Glas funkelnde Rosé schmeichelt noch immer unseren Gaumen, als Giuseppes Mama die Teller mit den emsig abgenagten Knochen abräumt. Sie zündet ein Windlicht an, denn das Tageslicht ist nach dem Untergang der müden Sonne immer schneller gewichen. Vorsichtig lege ich dir die wärmende Windjacke über die Schultern, damit du nicht fröstelst. Ab und zu knattert ein junges Paar auf einer alten Vespa oder Giovannis verbeulte Ape vorbei, doch das nimmst du nicht mehr wahr. Du bist sanft eingeschlummert, erschöpft von der anstrengenden Arbeit in deinem kleinen Atelier, das du vergangenen Monat endlich beziehen konntest. Geduldig halte ich deine schlanken Hände in meinen, und lausche deinem gleichmäßigen Atem. Voller Liebe betrachte ich deine elfenmäßigen Gesichtszüge, den sinnlichen Mund, das sanfte Lächeln deines leichten Schlafes.
Es ist dunkel geworden. Unmerklich reiche ich Giuseppe die Kreditkarte und bitte ihn, ein Taxi zu bestellen. Er dankt uns den Besuch mit seinem legendären Grappa, der erst gar nicht auf der Getränkekarte zu finden ist, weil er ihn nur an gute Freunde ausschenkt, und wir genießen nach deinem Erwachen die sanft brennende Milde, als auch schon das Taxi naht.
„Was für ein wundervoller Abend“, seufzt du, als wir nach einer ausgiebigen Dusche und zärtlicher Liebe endlich in unserem gemütlichen Bett zur Ruhe kommen. Du schmiegst dich an mich, und ich hauche die Kerze aus. „Willkommen im Paradies“, lächele ich dir zu, doch das nimmst du schon gar nicht mehr wahr.