Streitschrift: Von (Fehl-) Entwicklungen und (Un-) Sitten.
Tango in Deutschland. Von (Fehl-) Entwicklungen und (Un-) Sitten25 Jahre sind eine lange Zeit. Ziemlich genau so lange gibt es Tango Argentino in Deutschland.
Dieser so lebendige, leidenschaftliche, Tanz hat sich im Verlauf seines langen Lebens ständig weiterentwickelt, neue Strömungen erlebt, "Krisen" und "Moden" überstanden.
Manche Moden sind schnell und lautlos wieder verschwunden, andere haben deutliche Spuren hinterlassen, wenige haben den Tango sogar verändert.
Verändert hat sich aber nicht nur der Tanz selbst, sondern -leider- auch das Ambiente, die Umgangsformen auf (und jenseits) der Tanzfläche.
Verändertes Benehmen:
Während man "früher" niemandem erklären mußte, daß es nicht nett ist, "Körbe" zu vergeben und es doch bitte nicht sooo schlimmm ist, als Fortgeschrittener auch mal mit Anfängern zu tanzen, interressiert das heute nicht mehr wirklich viele der "Cracks".
Es ist absolut üblich, daß eine Frau auf einer Milonga stundenlang herumsitzt, ohne, daß sie zum Tanzen aufgefordert wird...
(Bevor ich gehängt werde: Ich weiß, daß es individuelle Ausnahmen gibt. Es soll sogar Milongas geben, auf denen so etwas nicht vorkommt, aber auch diese sind die große Ausnahme.)
Groteske Auswüchse durch Männermangel
Es ist sogar weit schlimmer, als bislang geschildert:
Wie oft ich schlechte bis mittelprächtige Tänzer gesehen habe, die völlig schmerzlos die besten Tänzerinnen über die Tanzfläche schleifen, sie immer und immer wieder in die gleiche "Figur" zwingen, weil sie einfach nicht so funktioniert, wie gedacht und womöglich auch noch lauthals der Frau erklären, "was sie gefälligst zu zun hätten und das sie ja wohl noch nicht so lange dabei seien", obwohl sie schlichtweg schlecht, zu spät oder gar nicht geführt haben, was die Frau aber tanzen sollte!
Wie oft ich so etwas gesehen und mit diesen Frauen gesprochen habe, kann ich nicht mehr zählen, aber die Antworten sind immer die gleichen:
"Wenn ich ihm gesagt hätte, daß er schlecht führt, oder nach einem Tanz aufgehört hätte, dann würde er ja nicht mehr mit mir tanzen!"
Leider haben diese Frauen damit recht!
Aber wenn das nicht Masochismus ist, was dann?
Das Problem ist einfach, daß die Frauen sich einem gnadenlosen Auswahlverfahren unterziehen müssen, wenn sie mit einem der wenigen Männer tanzen wollen.
Da wird Frau NOTGEDRUNGEN anspuchsloser und viele Männer nutzen das schamlos aus.
Fragt die Frauen, bitte, falls ihr das für übertrieben haltet!
Das führt zu einer brettharten Selektion:
Sehr attraktive Frauen werden zumeist auch dann von guten Tänzern aufgefordert, wenn sie noch nicht gut tanzen.
Gut tanzende Frauen, auch dann, wenn sie nicht ganz "dem gängigen Schönheitsideal" entsprechen.
Andere Frauen haben genau 3 Optionen:
Manche hören auf Tango zu tanzen, weil sie sich das entwürdigende Verhalten nicht antun wollen.
Andere sind hartnäckiger und dickfelliger und halten es sehr lange aus. Warten. Hoffen. Lächeln.
Und haben irgendwann das Glück, einen festen (Tanz-) Partner zu finden.
Wieder andere erlernen die Führungsrolle und tanzen lieber "als Mann", denn gar nicht.
Veränderte Kleidung
Während Frauen tendentiell im "kleinen Schwarzen" und schön gemacht zur Milonga gehen, gibt es immer noch (Tendenz zunehmend) Männer, welche sogar auf Bällen und Festivals, Cargohosen, zerissene Jeans, T-Shirts und Turnschuhe für angemessen halten...
Nur, daß wir uns nicht mißverstehen:
Ich trage auch Cargohosen und zerrissene Jeans! Aber ich weiß auch, wo NICHT!
In Pràcticas, im Unterricht etc. ist das m. E. völlig OK!
Aber immer dann, wenn die Ladys sich -mehrheitlich- herausputzen, sollte das ein guter Indikator für die Männerwelt sein, sich daran BITTE anzupassen, findet Ihr nicht?!
Es scheint fast so, als glaubten viele Männer (und einige Frauen) daß man heute gar nicht mehr "underdressed" sein kann...
Soll ich mal "aus dem Nähkästchen" plaudern, was die Körperpflege (Mundgeruch, Schweißgeruch, fettige Haare etc.) angeht?
Ich erspare Euch die Detàils. Nur soviel:
Fragt die Frauen Eures Vertrauens...
Ich bin irgendwann dazu übergegangen, in Kursen, Prácticas und Milongas immer Pfefferminz, Lakritz etc. zur freien Verfügung hinzustellen...
Zunahme von "Amateurlehrern"
Zugleich hat sich auch die "Kaste" der Tangolehrer verändert. Die Tendenz geht (zumindest quantitativ) in Richtung "sogenannter Tangolehrer"...
In Berlin war (und ist) das Zentrum einer Entwicklung, die es heute überall gibt:
Bereits Ende der 90er Jahre schossen plötzlich immer mehr "Tangolehrer" aus dem Boden.
Menschen, welche eine längere oder auch kürzere Zeit qualifizierten Unterricht erhalten hatten, fühlten sich "berufen", die vorhandenen Kenntnisse zu nutzen und nun selbst Unterricht anzubieten. In kirchlichen Gemeindesälen, Yogastudios, Volkshochschulen etc. konnte (und kann) beobachtet werden, daß das alte Sprichwort noch gilt, daß "der Einäugige unter den Blinden König ist"!
Die "Blinden", also die Anfänger, merkten nicht, oder erst spät, daß die allermeisten (nicht alle) "Tangolehrer" weitgehend ohne Konzept, ohne Methodik und Didaktik, versuchten zu vermitteln, was sie so gut zu können glaubten: Tango, Milonga und Tango-Vals.
Gerne auch alle drei Tänze an einem Wochenende oder zumindest doch Ganchos, Boleos, Sentadas und die komplexesten Drehungen in 4 Stunden...
Bitte glaubt mir: Ich übertreibe leider nicht, denn diese armen und hoffnungslos überforderten Menschen kamen und kommen immer noch in die Prácticas und Kurse renomierter Schulen und die fassungslosen Kolleginnen und Kollegen haben dann den undankbaren Job, diesen Leuten zu vermitteln, daß ihnen jede Basis fehlt, um derartig komplexe Dinge zu führen und auszuführen bzw. daswas sie tun FURCHTBAR ausschaut, schlampig, wackelig und falsch ist, ohne daß diese Schüler völlig gefrustet das Handtuch werfen!
Noch dazu erfreut es jede Schule, daß sie gegen unlauteren Wettbewerb antreten müssen, weil die "Freien Radikalen", die mal hier, mal dort, mal gar nicht unterrichten, zumeist weder GEMA, noch Steuern zahlen...
Vielen Tangoschulen geht es wie dem Tango auf den Tanzflächen:
Mehr schlecht als recht.
In den Szenen herrscht "Hauen und Stechen", es geht drunter und drüber und das Niveau des Tangos geht teilweise den Bach runter.
Es gibt Milongas, auf denen es so etwas wie Tanzrichtungen überhaupt nicht mehr gibt. Ein jüngerer hamburger Tanzlehrer machte mich vor wenigen Monaten zuerst sprachlos und dann traurig.
Er sagte allen Ernstes:
"Eine Tanzrichtung braucht man heute nicht mehr. Das war früher!"
Was soll man da noch sagen...?
"Neotango"
Dennoch: Diese neueste Strömung innerhalb des Tango, hat uns viele interessante Dinge gebracht.
Volcadas und Colgadas zum Beispiel.
Interessante Dynamiken.
Es gibt herausragende Vertreter dieser Mode. Chicho Frumboli und Pablo y Dana (D.N.I.)zuvorderst.
Beide mit großer Jüngerschar. Und das zu Recht!
Leider wird aber außer Acht gelassen, daß diese Ausnahmetänzer zuvor eine solide Ausbildung in klassischem Tango durchlaufen haben, bevor sie neue Wege einschlugen! Sie können auch anders tanzen und tun dies auch, wenn die Tanzfläche das erfordert!
In Europa, speziell in Deutschland, nimmt aber die Tendenz zu, daß absolute Anfänger direkt mit "Neotango" beginnen und nicht anders tanzen KÖNNEN! Eine zärtliche und trotzdem klare Umarmung, eine gute Haltung, richtiges Gehen (DAS MERKMAL EINES GUTEN TÄNZERS!) lernen und können sie daher auch nicht!
Das, was sie lernen, ist derartig raumgreifend (dabei in alle Richtungen tanzend), daß es allen anderen Männern zuvorderst abverlangt, jederzeit bereit zu sein, sich und seine Tanzpartnerin in Sicherheit zu bringen...
Die ruhige, fast meditative gemeinsame Bewegung aller Paare in die gleiche Richtung, engumschlungene Menschen, das Gefühl des Herzschlages der Partner (-in) am Brustkorb zu spüren...?
Sinnlichkeit, scheinbares Verschmelzen zweier Körper?
Fehlanzeige!
"Neotango" ist eher eine "sportliche Art Tango".
Seien wir ehrlich: Eigentlich ist Tango ein urbaner Volkstanz. Tanz- und erlernbar bis ins hohe Alter.
Daneben gab und gibt es noch die Tango Kunstform für die Bühne mit entsprechend ausladenden raumgreifenden sog. "Figuren".
Hier sind Tanzrichtungen nicht notwendig, weil das Showpaar alleine tanzt, oder die Wege sind choreographiert.
Die Notwendigkeit des "adaptarse a la pista", also dem "sich an die Tanzfläche anpassens", ist im "Neotango" leider völlig verlorengegangen!
Ich habe tumultartige Zustände in Bs. As. erlebt, nur weil 2-3 Paare "Neo" betrieben und von diesem Zeitpunkt an die Ruhe und das gleichmäßige Dahinschweben FÜR ALLE unmöglich wurde!
Das führte dann zu besagten Tumulten, weil die übrigen Paare sich das nict bieten ließen und der Organisator die "Neos" rausschmiß, weil sie sich weigerten, bitte anders zu tanzen. (Oder nicht anders konnten?)
In Deutschland ist das undenkbar! Hier gilt es doch als verpönt, im Sinne der Mehrheit, eine Minderheit um anderes Tanzverhalten zu bitten! Es scheint fast wie das Internet zu sein: Jede Einschränkung gilt als "Zensur" und ist des Teufels und jeder, der das versucht ist ein "diktatorischer Gralshüter der reinen Wahrheit"...
Oftmals wird auf die "persönliche Freiheit" hingewiesen...
Endet etwa die "individuelle Freiheit" nicht mehr da, wo die "Freiheit der anderen" tangiert wird? Ich denke eigentlich schon...
WEnn die Tanzfläche frei ist, wird niemand klagen, aber die Regel ist doch, daß zum eigenen Vorteil alles erlaubt scheint, EGAL, was das für andere auf der Piste bedeutet!
Wo ich gerade bei dem Thema bin:
Ist es eigentlich "uncool" geworden, sich nach einem "Crash" auf der Tanzfläche, oder wenn man merkt, daß man gerade andere behindert und genervt hat, weil man GEGEN DIE TANZRICHTUNG, oder QUER dazu getanzt hat, ZU ENTSCHULDIGEN? (Und sei es duch eine entschuldigende Geste?)
Mir scheint es so...
Für Neotango ist -zumindest für die Frauen- eigentlich eine sehr gute Beweglichkeit (wenn nicht sogar eigentlich eine solide Tanzausbildung) irgendwas zwischen sehr empfehlenswert und absolut notwendig. Oder täusche ich mich?
Wenn ich die "coolen Neotango-Boleos" sehe, bei denen man befürchten muß, daß die Frauen sich den Absatz in den Hinterkopf rammen, kann ich mir gut vorstellen, was es für die allermeisten Frauen bedeutet, sich diesen Anforderungen zu stellen, ohne völlig behämmert dabei auszusehen... Fatal!
Ist Tango doch kein "trauriger Gedanke, den man tanzen kann" sondern "cool" und purer Spaß nach Musik?
Kommt es etwa doch nicht darauf an, daß 2 Menschen versuchen in den Tangohimmel zu gelangen, indem sie die "triadische Harmonie von 2 Menschen und einer Musik" suchen? Ist diese spezielle Innigkeit, dieses Prickeln und jener "vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens" auch ohne Umarmung möglich?
"Rhythmische Sportgymnastik nach Musik, auf Basis des Tango Argentino" hat mir gegenüber mal eine Gruppe von argentinischen Freunden den "Neotango" genannt.
Ich habe gelacht. Hartcore Milongueros eben, dachte ich damals.
Aber vielleicht haben sie gar nicht so Unrecht. Wer weiß...
Ein Wort zur Musik:
Worin liegt eigentlich der Reiz, zwar Tango tanzen zu wollen, aber dazu weitgehend jede Musik zu benutzen, außer Tango, solange nur "der Rhythmus nicht weiter stört" bzw. er nur langsam genug ist?
Die absolute "Krone" dieser selbsternannten "Tango Avantgarde" legt neuerdings sogar deutschen Rap (!) zum tanzen auf...
Ich habe nichts dagegen, mal ein Stück "Klassik" oder einige der sog. "Elektrotangos" aufzulegen, auch wenn ich sicher bin, daß es weder zu wenige (sogar vielen noch unbekannte) schöne Tangos gibt, noch denke ich, daß "Neotango Musik" wirklich kreativ wäre.
Aber es gibt auch sehr schöne Stücke, selbst wenn sie m. E. nicht die wahre Essenz des Tangos ausdrücken können, noch seine künstlerische Qualität erreichen.
Schon beobachte ich, daß sich immer mehr Tangueros sich bereits wieder vom "E-Tango" ab- und der "klassischen Tangomusik" wieder zuwenden. Klassischer "backlash"!
Ausblick
Trotz alledem bin optimistisch genug, zu glauben, daß sich letztlich in der Musik, in der Lehre und dem Tanz, Qualität durchsetzen wird!
Aber es geht eben nicht ohne erhebliche Irritationen und Probleme ab.
Die Zukunft wird zeigen, wohin die Reise gehen wird.
Ganz sicher ist nur, daß der KLASSISCHE Tango überleben wird. Ob das auch für "Neotango" gilt, wage ich zu bezweifeln.
Einige von den Regeln und "Behaviors" der guten alten (und altertümlich anmutenden) Milongas klassischer Art, täten uns allen sicher gut.
Auf der Tanzfläche und im Saal.
Respekt. Rücksicht. Richtung. Achtung. Vorsicht. Einfühlungsvermögen. Galanterie der alten Schule. Und ein gewisser (Kleidungs-) Stil!
Ich bin sicher: Sie sind nicht "out" und werden es niemals werden. Es wird sie immer geben.
Ebenso verhält es sich mit dem "klassischen" Tango. Er ist immer aktuell, überall auf der Welt, und wird es bleiben!
Ob das für den sog. "Neotango" auch gelten wird? Ich denke nicht. Einige Elemente werden bleiben. Das, was viele für einen neuen Stil halten, ist meiner Meinung nach schon in wenigen Jahren vorbei.
Was meint Ihr? Bin ich zu konservativ? Täusche ich mich? Ist alles ganz anders?
Ich bin gespannt auf Eure Meinungen!
Nur um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen:
Ich habe teilweise sehr überzeichnet! Das macht mein Grundanliegen deutlicher, denke ich.
Und ich hoffe, daß es zur Diskussion reizt!
Liebe Grüße aus Hamburg - der schönsten Stadt Deutschlands!
Ulli