Meine Beobachtung in über 15 Jahren...
... Leitung von Tangokursen ist die, dass ich bereits seit sehr, sehr langer Zeit die Teilnehmer regelmäßig bei der Begrüßung damit verblüffen kann, dass ich Ihnen VOR dem Kennenlernen sagen kann welche Berufe vertreten sind und welche nicht! Trefferquote liegt -nach wie vor- bei rund 95 %!
Kleines Beispiel?
Immer vertreten sind: Therapeuten aller Richtungen, Pädagogen aller Art, Ärzte, Informatiker, Programmierer (und div. Arten von Computer-Spezis), Künstler, Architekten, Ingenieure, BWLer, Juristen, Studenten, usw. Außerdem kommen Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht studiert haben, aber locker das Zeug dazu gehabt hätten! Diese können durchaus auch mal Handwerker sein, oder Angestellte. Aber in 15 Jahren hatte ich keine 5 Facharbeiter und NIEMALS einen "sogenannten (ungelernten) Arbeiter"! Nie!
Das darf man dann wohl eindeutig Bildungsbürgertum nennen, oder?
Warum ist das so bei uns?
Nun meine Theorie ist die, dass es möglicherweise eine große individuelle Sehnsucht nach SINNLICHKEIT gibt, besonders eben bei jenen, welche nicht mehr sinnlichen Tätigkeiten nachgehen, sondern reine Kopfarbeiter sind!
Darüber hinaus gibt gerade der Tango (UNSER Tango, also der argentinische) vieles von dem, was scheinbar selbst bei Paaren (merkwürdiger Weise) oftmals zu kurz kommt: sinnlich erfahrbare Nähe, Umarmung (welche immer auch TROST, GEHALTEN WERDEN, EROTIK, NÄHE etc. ist!).
Und in einer Stadt wie Hamburg, die als DIE Single-Stadt Europas gilt... steht das alles hoch im Kurs!
Verständlich, wie ich finde!
Leben wir nicht in einer Zeit zunehmender Entsinnlichung in der Arbeitswelt? "Individualisierung" allüberall!
Was macht Tango für viele "gesetzte Herren" so attraktiv? Was für all die "alleinstehenden Frauen und älteren Damen"? Die Nähe! Das Gefühl, von einem Menschen (und potentiell sexuellen Pendent) umarmt, gehalten, WAHRGENOMMEN zu werden! Wer würde von diesen Menschen denn von wem wie oft (und wie oft so, so lange!?) in den Arm genommen bzw. könnte jemanden so in den Arm nehmen, sich LEBENDIG fühlen!?
Da, irgendwo dort liegt für mich der Schlüssel zu dieser Frage.
Das würde auch erklären, warum in einer so berührungsarmen bzw. berührungsfeindlichen Kultur wie Japan, der Tango so einen fundamentalen Erfolg hat! In Tokio tanzen mehr Menschen Tango, als in Buenos Aires! Diese selben Japaner, die wie wir eng umarmt die Nacht vertanzen, schütteln aber tagsüber nicht mal einem Menschen die Hand zur Begrüßung! Irre, oder?!
In Buenos Aires tanzt übrigens "el pueblo", das (einfache) Volk! Es gibt sie, die Ärzte, die Lehrer und Ingenieure etc.. Zunehmend auch durch die mittlerweile üblichen Studentenkurse in den "Facus", ABER sie bleiben die Minderheit, sind die Ausnahme!
Tango ist dort -nach wie vor- ein urbaner Volkstanz. Und übrigens ÜBERHAUPT NICHT besonders an "jüdische Gesellschaftsteile" oder so gebunden. In der US Tangoszene kenn ich mich nicht genügend aus, aber ich halte das dennoch auch dort für unwahrscheinlich...
Übrigens ist die Berufs- bzw. Bildungsstruktur in ALLEN europäischen Ländern weitgehend ähnlich, wie ich bei meinen Kursen dort sehe.
Grüße - Ulli