pro & contra: sind alle Codigos übertragbar auf Deutschland?

Ein klein wenig anstrengend zum Anhören ist es schon :-).
Grundsätzlich gelten die Regeln auch hier:
• Die Verwechslungsgefahr beim Cabeceo kann man nicht verleugnen.
• Beim Eintreten in die Ronda wird hier oft keine Rücksicht genommen - ich weiss nicht ob man tatsächlich auf das Hereinlassen warten muss, aber auf eine Lücke warten, statt einfach hereinzupreschen wäre bei einigen Tangueros wünschenswert, genauso wie sich an die Fliessgeschwindigkeit der Ronda anzupassen
• was mir neu war, dass die Könner aussen Tanzen, und die Übenden in der Mitte tanzen sollten.
Fazit für mich: ich finde allzu formal muss man es nicht nehmen, aber die Codigos zu kennen und auch prinzipiell zu respektieren ist nicht verkehrt.

Mir fällt in letzter Zeit auch vermehrt unangenehm auf, zuletzt gestern, dass etliche Tangueros und auch Tangueras einfach aufstehen und sich in die fließende Ronda stellen, um am Tanz teilzunehmen. Und das sind nicht ausschließlich Anfänger, sondern z. T. gut Tanzende. Niemand käme auf den Gedanken, aus einer Parklücke einfach rückwärts rauszusetzen und zu erwarten, dass der fließende Verkehr dieses Manöver rechtzeitig erkennt und den Ausparkenden einfädeln lässt. Aber in einer Ronda wird das erwartet.
Genauso strange finde ich, dass Boleos auf einer vollen Tanzfläche geführt und auch ausgetanzt werden. Wurde schon einmal oberhalb meines Knies von einem Absatz getroffen.
In ein Gespräch würde ich mich nie einmischen, um die beteiligte Tanguera aufzufordern, das widerspricht meiner Sozialisation.

Los Codigos - nicht mein Lieblingsthema aber im Moment gerade mal wieder wichtig. Es scheint, so wie sich die Gesellschaft von Zeit zu Zeit und Ort zu Ort unterschiedlich rücksichtsvoll verhält - so ist es auch auf dem Tangoparkett. Hinzu kommt, dass viele Schulen lange Zeit das Thema gemieden haben. Active 59 hat das Thema Ausparken wirklich sehr überzeugend veranschaulicht. Nicht anders ist es mit dem Thema Spuren. Fährt man mitten zwischen zwei Spuren in seinem eigenen Tempo Schlängellinien, macht man sich in den beiden blockierten Spuren dahinter sehr sehr viele Freunde. Das ist in der Ronda genauso. Nach meiner Erfahrung sind die Codigos nicht nur für ein gutes Miteinander sondern auch zu unserem Schutz da. Beispielsweise die Regel, niemals zu fragen, sondern den Cabeceo zu gebrauchen und ebenso niemals die Dame zu bedrängen oder gar zu bedrängen und dann noch zu fragen. Es ist doch klar, dass sie frei entscheiden können will und was habe ich denn als Partner davon einen ungewünschten Tanz zu erzwingen? Ein Vergnügen? Um dieser Respektlosigkeit von vorne herein gar keine Chance zu geben ist die Antwort drauf in BA (fast) immer NEIN. Ich persönlich kann das nur jeder Tanguera wünschen.

Da passt doch jetzt am besten ein Griff in die Tango-Mottenkiste. Dieses Video kennen viele sicherlich seit Jahren - Murat Erdemsel bringt es augenzwinkernd auf den Punkt:


Murat & Michelle Erdemsel @ YolaTango, Austin Tango Festival 2/2013

Hier noch schnell der 1. Teil der von Murat Erdemsel initiierten "Nachhilfe" zum Thema Códigos - insbesondere zum Eintreten in die Ronda, Spur halten und Rücksichtnahme gegenüber anderen Paaren, aber seht selbst:

1. Entering the floor
2. Progressing in your lane
3. Maintaining the floor of dance
4. Remaining aware of your surroundings

Hier vorgetragen von Tänzern von OpenMilonga, einer Vereinigung von Laien, die sich für den argentinischen Tango in Genf begeistern. Es ist einfach zu herrlich und so sollte auch dem letzten klar sein, worauf es ankommt.

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen: m.E. sind diese Códigos nicht nur übertragbar auf unsere traditionellen Milongas (also grundsätzlich überall, wo in einer Ronda getanzt wird), sondern sollten als Grundlage eines harmonischen und rücksichtsvollen Miteinanders in jeder Tangoschule von Anfang an gelehrt und auf jedem Level von Zeit zu Zeit mal wieder in den Unterricht einfließen.


AirMilonga by OpenMilonga @ Genf 10/2012

Im El Abrazo / Hamburg hatten wir tatsächlich mal einen ganzen Kursblock über dieses Thema, wo wir das "Ein- und Ausparken", Abstand und Spur halten unter verschiedenen Bedingungen geübt haben, ebenso vor gut 20 Jahren bei meinem allerersten Lehrer, Ulli Barth, im La Yumba. Das sind aber löbliche und leider zu seltene Ausnahmen - wobei ich hauptsächlich für HH sprechen kann.

Ich bin ja dafür, sich ein wenig von den Regeln zu lösen. Klar, mensch sollte sie beherrschen, wie die Grundregeln im Straßenverkehr. Und wenn es voll ist, sieht man schnell, wer ein Tanzrowdy ist und wer nicht. Was ich immer wieder interessant finde, ist die Art, in der Stare in großen Schwärmen oder kleinen Gruppen fliegen, wie sich nebeneinander auf Stromleitungen setzen: nie würden sich ihe Flügel berühren. Benimmt sich einer daneben, weichen die Betroffenen aus und eine Kettenreaktion nimmt ihren Anfang. Und da Stare keine Starrköpfe haben, geht es ohne Streit vonstatten. Klar, auf einer Tanzfläche geht es anders zu. Aber ich wünsche mir mehr Leichtigkeit im Miteinander. Die Regeln kennen wir alle. Und ich habe nur wenige Momente erlebt, in denen sie so verletzt wurden, dass es den Tanz anderer ernsthaft eingeschränkt hat.

Gaaaaaaanz wichtig!
ich habe auf einem großen Tango-Festival in NRW allen Ernstes ein Paar gesehen, die dauerhaft entgegen der Tanzrichtung tanzten und dann auch noch quer in die Ronda rein.

Die Regeln haben schon ihr Gutes, wenn alle achtsamer unterwgs wären, würde es genauso funktionieren.
Solange man immer mal wieder einen spitzen Hacken abbekommt, ist jedenfalls noch Verbesserungspotential vorhanden