schallalalala
Das übermäßig raumgreifende und rücksichtlose Tanzen hat, wie ich denke, nicht grundsätzlich etwas mit Neo-Tango zu tun. Es erscheint vielmehr so, weil nicht-traditionelle Milongas häufig in sehr großen Räumlichkeiten stattfinden. Und wenn man viel Platz hat, neigt man häufig dazu, auch übermäßig viel Raum zu beanspruchen. Mir geht es selbst oft so. Während eine Tanzfläche sehr voll ist, richte ich meinen Tanzstil stark danach aus, was um mich herum geschieht. Kaum aber gleicht die Tanzfläche einer Autobahn in tiefster Nacht, werde ich übermütig, und laufe Gefahr in eines der wenigen verbliebenen Paare hineinzurauschen. Deswegen tanze ich auch lieber auf kleinem Parkett. Immer nur in großen Räumen zu tanzen, verdirbt den Tanzstil.
Außerdem bietet eine weite Tanzfläche weniger klare Haltepunkte, besonders wenn in drei Spuren getanzt wird. Wenn man nicht gerade außen ist, wo es sehr eng zugeht, und hin und wieder neue Paare auf die Fläche wollen, kann man sich eigentlich nur an dem voraus tanzenden Paar orientieren. Wenn dieses keine klare Linie hält, wird es schwierig die eigene Position zu bestimmen. Dabei muss der betreffende Tänzer noch nicht einmal verantwortlich sein. Er hat ja vielleicht die gleichen Probleme.
Wirklich unangenehm finde ich in erster Linie Tänzer die zwar der Spur treu bleiben, aber dazu neigen sich in schnellen Kreisbewegung wie ein driftender Kreisel ständig vor und zurück zu bewegen. Wenn man zu wenig Abstand hält kommt es quasi zu einem Frontalzusammenstoß, lässt man zu viel Raum, schiebt sich möglicherweis ein anderes Paar dazwischen.
Der Faktor Neo mag insofern eine Rolle spielen, als dass hier meist mit komplizierten Elementen getanzt wird. Deren Beherrschung ist nicht immer so weit gediehen, dass die Tänzer auch noch ausreichend ihrer Verantwortung als "Verkehrsteilnehmer" gerecht werden könnten. Aus dem ganzen aber Charakterschwächen abzuleiten, damit wäre ich vorsichtig, zumal ich sagen muss, dass die mir weniger sympathischen Milonga-Teilnehmer nicht selten recht gute Tänzer sind. Dass sich das sozialverhalten in Unserer Gesellschaft auch auf Milongas überträgt, dem würde ich allerdings auch nicht widersprechen. Schließlich sind Wir in Milongas noch die gleichen Menschen und schaffen es oft nicht wirklich, die Gewohnheiten eines belastenden Alltags mit den Straßenschuhen an der Gaderobe zulassen.
Ich denke was die Benimmregeln angeht, sowohl im Hinblick auf das Tanzverhalten, als auch hinsichtlich der Ethikette, könnten Tanzschulen mehr dazu beitragen, Tanzen als eine Angelegenheit zu vermitteln, die über das rein tänzerische hinaus geht. Die erste Tanzlehrerin, die mich wirklich begeistert hat, ist gelegentlich auf, "Verkehrssicherheit" und Verantwortung gegenüber anderen Milonga-Teilnehmern eingegangen. Beispielsweise ließ sie uns auf stark reduziertem Raum oder mit verbundenen Augen tanzen. Auch legte sie auf die soziale Komponente Wert und wies darauf hin, der Partnerin allenfalls auf deren ausdrücklichen Einverständnisses hin etwas vermitteln zu wollen. Dass Männer, die bei einer Milonga Belehrungen erteilen häufig selbst nicht gut tanzen, verwundert mich übrigens nicht, weil ich dies für ein Merkmal von Unerfahrenheit halte. Sei es weil man selbst noch nicht herausgefunden hat, wie man sich auf ungewohnte Situationen einstellt, sei es weil die nonverbale Kommunikation nicht funktioniert. Ungebetenen Gratis-Unterricht geben übrigens auch manche Frauen ganz gerne. Dies ist meist sicher gut gemeint, vielleicht Ausdruck eines Mutter-Instinkts. Dennoch sollte sich mal rumsprechen, dass dies tatsächlich nicht nur grob unhöflich ist, sondern auch extrem destruktiv.
Dass dies früher alles besser gewesen sein mag, dürfte, wenn es denn so sein sollte, damit zusammenhängen, dass die Tango-Szene extrem gewachsen und anonymer geworden ist. Hier in Berlin bin ich vor kürzerem auf Blues-Dance aufmerksam geworden. Jene die beide Szenen miterlebt haben, meinen, die hießige Blues-Szene hätte jenen Charakter, der vor 20 Jahren noch der Berliner Tango-Szene zu eigen war. Sympathisch an Blues-Veranstaltungen ist, dass dort jeder mit jedem tanzt, ganz gleichen welchen Levels, und dass es unüblich ist, Aufforderungen abzulehnen, wenngleich man dann nur ein oder zwei Tänze miteinander verbringt.