Ergänzend zu Isabelas Beitrag
Ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen einem fortgeschrittenen Tänzer und einem routinierten Tänzer ist mMn, dass auch tatsächlich eine Entwicklung, ein Fortschreiten zu bemerken ist. Wir beobachten und verfolgen dass auf unseren Stamm-Milongas seit Jahren bewusst und müssen leider feststellen, dass die meisten der als gut und fortgeschritten bezeichneten Tänzer heute GENAUSO tanzen wie vor drei Jahren. Es hat also praktisch keine Entwicklung stattgefunden, was nach meinem Verständnis eigentlich nicht sein kann.
Nun kann man natürlich sagen, dass man nach 5 Jahren so langsam alle der (begrenzt vorhandenen) Schritte und Figuren im Tango in zig Workschops nun auch langsam mal durchgenudelt haben müsste und sie nun „nur noch“ möglichst kreativ kombinieren bzw. perfektionieren muss. Das sind die von Isabela erwähnten „Standardsituationen“. Und das ist der Punkt, an dem die meisten mit ihrer Entwicklung im Tango aufhören. Das ist wie schon gesagt auch völlig in Ordnung, wenn man Tango hauptsächlich mit der Milonga als Ziel und Zweck betreibt.
Was soll man denn nun aber weiter entwickeln, wenn man die Schritte und Figuren, die der Tango so hergibt, bereits beherrscht? Das ist die Frage, die sich die meisten Tangotänzer gar nicht erst stellen, geschweige denn für sich selbst beantworten. Wenn man an diesem Punkt angekommen ist, dann kann man auf das, WAS man tanzt, nicht mehr allzu viel drauf packen. Was sich aber im Verlaufe der eigenen und auch der tänzerischen Entwicklung ändern kann und müsste, sind das WIE und WARUM. Hier verschenken viele Tänzer, die technisch auf einem recht hohen Niveau angekommen sind, eine Menge Potenzial, wenn sie beim WAS verharren. Unsere Lehrer haben das vor einer Weile sehr drastisch ausgedrückt, nachdem wir ein paar Jahre bei ihnen Unterricht hatten: „Ja, ihr tanzt beide sehr schön und technisch sauber und korrekt. Jetzt müssen wir nur noch Tango daraus machen…“.
Was meine ich mit diesem WIE? Nachdem die Technik und formale musikalische Umsetzung gemeistert sind, geht der Fokus von den Schritten weg, hin zu Ausdruck und Interpretation. Und hier wird es interessant. Wechsel in Dynamik, Tempo und Schrittgröße, Tanzen nicht nur mit den Füßen, Benutzen des Tanzbeins (auch Männer haben eins), Interpretieren von Stimmungen und Farben der Musik, wirklicher Dialog mit dem Partner und vieles mehr sind Elemente, die man weiter entwickeln kann, wenn man das „Handwerk“ beherrscht und die dann auch eine sichtbar und spürbar anderen Tango bewirken. Dann schafft man es, dass der Partner und auch der Zuschauer aufgrund der eigenen Interpretation die Musik anders hört als zuvor. Plötzlich hört man Instrumente oder Elemente in der Musik, die vorher nicht da waren, die eigene Interpretation eines Tangos wird nun durch die Interpretation des Partners beeinflusst und verändert. Es ist für mich total ermüdend und langweilig, den „guten Tänzern“ auf unseren Stamm-Milongas beim Abspulen ihres Repertoires zuzusehen (wie reichhaltig es auch sein mag), weil der Ausdruck und der Bezug zur Musik, zum Partner und zu sich selbst meist fehlen. Man merkt sehr deutlich als Zuschauer, ob jemand SEINEN Tango tanzt oder nur EINEN Tango. Und wenn ich MEINEN Tango tanze, dann muss der zwangsläufig heute anders sein als vor 10 Jahren, da ich vor zehn Jahren ein ganz anderer Mensch war, unter anderem mit einer ganz anderen Sicht auf den Tango (ist jetzt nicht so esoterisch gemeint, wie es vielleicht klingt).
Ich hoffe, das liest sich jetzt nicht allzu verworren. Übrigens, ich halte nichts von diesem Gender-Schrieb, also wenn ich oben „Tänzer“ geschrieben habe, sind natürlich immer auch „Tänzerrinnen“ gemeint. Vielen Frauen geht beim Tango einiges in dieser Hinsicht verloren, weil sie zu sehr darauf bedacht sind, den Mann zu interpretieren statt die Musik. Aber das ist ein anderes Thema…
Liebe Grüße,
Thomas