Erinnerungen an Osvaldo Pugliese 2
Etwas zur Geschichte von Osvaldo Pugliese, da ich nicht davon ausgehen kann, dass alle Leser sie kennen:
Osvaldo Pedro Pugliese (* 2. Dezember 1905 in Villa Crespo, Buenos Aires; † 25. Juli 1995 ebenda) war ein argentinischer Musiker, der als Pianist, Arrangeur, Bandleader und Komponist den Tango Argentino im 20. Jahrhundert erheblich prägte und weiterentwickelte
QUELLE: Wikipedia
http://de.m.wikipedia.org/wiki/Osvaldo_Pugliese
Um besser verständlich machen zu können, wovon ich erzählen möchte, muß ich etwas ausholen und bitte dafür um Verständnis.
Ich lebte Anfang der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Buenos Aires. (Klingt geil, oder!? Ist aber so...)
Da mein Vater gebürtiger Porteño ist (So nennet man die Menschen aus Buenos Aires) wollte ich quasi 3 Fliegen mit einer Klappe schlagen:
1. - meine entfernte Familie besser kennenlernen und ihr Leben mit Ihnen teilen.
2. - Meine Tango-Fertigkeiten vervollkommnen und endlich TANGO LEBEN, so, wie ich es immer von meinen Verwandten gehört hatte!
3. - Nach Erhalt meines Diplomes (Dipl. Volksw.) eine Postgraduierung (Titel: Maestro en Economía Internacional) absolvieren.
Ich studierte also tagsüber mehr oder weniger intensiv
Internationale Wirtschaft und ansonsten sorgte ich für die Verbesserung meines Spanisch- und Tango-Könnens.
Durch vorherige Recherche und Empfehlungen wurde ich vom ersten Tag an in die Clique um "La Negra" Graciela González, aufgenommen. Dazu zählten z. B. Gustavo Naveira, Fabián Salas, Tomás Howlin, Veronica Alvarenga, Patricia Lamberti, "El Alemán" Juan Bruno, "Pupi" Castello, Marta Antón, Silvana Grill, Amira Cámpora, "El Flaco" Dani, Carlos Copello y Alicia, Roberto Herrera y Vanina Bilous die damals noch kleine Geraldine Rojas (kam immer mit ihrer kleinen, pummeligen Mama) und einige mehr.
Den meisten von Euch sind einige der Namen sicher ein Begriff.
Wir trafen uns ständig irgendwo privat, quatschten über Gott und die Welt (die für uns damals eindeutig sehr limitiert war, denn sie hieß: Tango, Buenos Aires, Assado und Partys). Dabei wurde natürlich getanzt, ausprobiert und verworfen.
Amira war später, nach meiner Rückkehr nach Deutschland, meiner Tanzpartnerin. (Siehe Titelbild der Nummer der allerersten Ausgabe der "TangoDanza")
Und durch sie, die die "Busenfreundin" von Vanina war, lernte ich Osvaldo Pugliese persönlich kennen, denn "Roberto y Vanina" waren von 1992 bis zum Tode Puglieses, das offizielle Tanzpaar, des Orchesters von Osvaldo Pugliese.
http://m.youtube.com/#/playl … %3Flist%3DPL3BF109DAE0A35C64
Nachdem ich Osvaldo und seiner Frau Lidia, bei einem Auftritt im Backstage-Bereich der "Galeria del Tango", vorgestellt wurde, lachte er und sagte: "Ein Junge aus Deutschland, mit argentinischem Vater, der hier studiert und Tangoprofi werden will? Merkwürdig und interessant zugleich!"
"Lidia, wir müssen den Jungen einmal zu uns einladen. Ich möchte ihn kennenlernen und er soll mir von Deutschland erzählen!"
Ich dachte nicht, dass dies ein ernsthaftes Vorhaben sein würde, gab ihm aber wunschgemäß meine Visitenkarte.
Kaum 1 Woche später, kam ein Anruf von Lidia Pugliese und ich wurde freundlich gefragt, ob ich wohl Zeit und Lust hätte, am Samstag zu ihnen nach Hause, zum Café zu kommen?!
Das war für mich ein unbeschreiblicher Moment! Und als ich Gustavo Naveira, Garaciela und den anderen davon erzählte, wollten sie mir zuerst gar nicht glauben...
Mit einem Strauß Blumen in der Hand, stand ich pünktlich vor der Haustür eines völlig normalen Wohnhauses in der Avenida Corrientes und drückte mit pochendem Herzen den Klingelknopf im 5. Stock (glaube ich mich zu erinnern).
Lidia öffnete freundlich lächelnd die Tür und nahm mir erfreut die Blumen ab.
Osvaldo Pugliese erwartete mich am Eßtisch der einfachen und kleinen Wohnung, auf welchem bereits Mate und Kaffee mit "Facturas" (kleine Hefegebäck-Stücke) gedeckt war.
Er begrüßte mich mit den Worten:
"Herzlich willkommen Ulli! Du bist wirklich so pünktlich, wie Deutsche eben sind!"
Wir unterhielten uns den ganzen Nachmittag. Richtiger: Er fragte mich aus! Wie sich herausstellte, war Osvaldo Pugliese ein sehr belesener und politisch äußerst gut gebildeter Mann.
Zeit seines Lebens überzeugter Kommunist! Er kannte "Das Kapital" von Karl Marx erheblich besser, als ich (was ihm deutlich mißfiel, denn er hatte Fragen, die ich nicht beantworten konnte) und der ein Bewunderer der Deutschen war. Klar kannte er die Geschichte des Nationalsozialismus sehr gut, aber er nahm die Deutschen dafür nicht in Generalhaftung, sondern interessierte sich viel mehr für die Kultur und die Bundesliga! Osvaldo war "Hincha" (Fan) von gutem Fußball und er fand dass die Bundesliga zwar nicht so gut sei, wie der argentinische Fußball, aber doch sehr gut und sehr viel kraftvoller und disziplinierter.
Schließlich interessierte er sich noch sehr dafür, wie ich den Tango empfinde und warum ich nach Argentinen gezogen war.
Ich hingegen, nutzte die Gelegenheit, ihn nach seiner pers. Geschichte, nach der seiner Orchester und der anderen berühmten Orchester und Musiker zu befragen.
Osvaldo Pugliese schätzte die Kollegen sehr und er äußerte sich ausschließlich lobend und humorvoll über gemeinsam Erlebtes, woher er so manche Anektdote zu erzählen wußte.
Als ich nach der Zeit der Militär Diktatur (in welcher mehr als 30.000 Menschen "verschwunden" sind) befragte, wurde er zunächst sehr ruhig und erzählte dann davon, dass es eine sehr schlimme und bedrückende Zeit gewesen sei und er mit seinen Musikern sehr mit den Kollegen und "Genossen" mitgelitten habe.
Seine Musik wurde in der Zeit nicht im Radio gespielt, eben weil er bekennender Kommunist und Gegener der politischen Verhältnisse war!
Bei sehr, sehr vielen Konzerten, wurde er kurz zuvor und manchmal sogar direkt aus dem Backstage-Bereich verhaftet, weil man die Auftritte verhindern wollte!
Die Gegenstrategie des Orhesters war aber ebenso klar, wie mutig:
ALLE Konzerte fanden dennoch statt, ohne einen Pianisten. Allerdings legte man jeweils eine rote Nelke auf die Pianotastatur! Eine rote Nelke, die Blume, die ein international bekanntes Symbol des Sozialismus ist...
Dafür war er damals noch immer sehr dankbar und sehr stolz auf sein Orchester!
Zeit Lebens hat Pugliese immer darauf bestanden, dass er, der sich nur als ein Teil des Orchesters, ein Musiker wie alle anderen sei, auch nicht einen Centavo mehr bekam, als jedes andere Orchestermitglied! Er lebte Tango und Sozialismus aus Überzeugung.
Ich hatte später noch mehrfach die Ehre, bei ihm und seiner Frau Lidia eingeladen zu sein, nach Konzerten mit dem Orchester irgendwo essen zu gehen und wundervolle Momente mit diesen Legenden erleben zu dürfen.
Abschließend noch eine Anekdote, die die große Verehrung der Porteños für Osvaldo Pugliese, als so bescheidene Person und für seine leidenschaftliche Musik zeigt:
Irgendwann war ich zum Jubiläumskonzert eingeladen worden, mit welchem die Homage an Osvaldo Pugliese zum 54. Bühnen-Jahr" ("Homenaje a Osvaldo Pugliese - 54 Años en el escenario") gefeiert wurde.
Der Ort war das Teatro Alvear in der Avenida Corrientes, ganz in der Nähe des Obeliscos.
Wie man an der ungeraden Zahl erkennen kann, hatte man damals nicht sicher sein können, ob er das 55. Jahr wohl noch in der Lage sein würde, auf der Bühne zu stehen.
Osvaldo Pugliese war inzwischen nicht nur schon sehr alt, sondern auch sehr, sehr schwerhörig. Bei Konzerten stand Lidia, seine Frau, anfangs hinter ihm um ihm das Zeichen zum Einsatz zu gehen, denn seine Sehkraft war schon lange Zeit sehr schlecht und ohne die Hilfe seiner Frau, kommt er nicht mehr feststellen, wann der 1. Bandoneonist die Einsätze gab.
So kam es, dass bei dem Stück "Recuerdo", welches von Roberto y Vanina auf der Bühne tanzten, Osvaldo versehentlich eine ganze Zeile in der Partitur "übersprang", ausgerechnet, bei dem berühmten Adagio, im letzten Drittel des Stückes, einer Stelle, in welcher Vanina gerade einige sehr langsame und ruhige Planeos vor (dem stehenden) Roberto auf den Boden zeichnete.
Plötzlich raste das Orchester in atemberaubendem Tempo hinter dem vorauseilenden Maestro her und das arme Tanzpaar hüpfte förmlich hinterdrein, auf der Suche nach einer Möglichkeit, wieder an ihre Choreographie anknüpfen zu können!
Ich grinste und sagte halblaut zu der neben mir sitzenden Amira Cámpora:
"El Maestro ya está bastante sordo, no cierto?!"
(Der Meister ist schon ganz schön taub, was?!)
Daraufhin drehte sich direkt vor mir ein Schrank von einem Mann um und sagte mitzusammen gekniffenen Augenbrauen:
"Estás hablando del Maestro Don Osvaldo Pugliese, joven! Cállate la boca o te la callo yo!"
(Du sprichst vom Meister Don Osvaldo Pugliese! Mach das Maul zu, sonst mache ich es Dir zu")
Ich beschwichtigte ihn und war den Rest des Konzertes lieber ruhig!
Beim Hinausgehen traf ich im Foyer wieder auf den Hühnen und er fragte mich sinngemäß, ob ich keinen Respekt habe und bezeichnete mich als "Hijo de puta" (Hurensohn)!
Es war ein interessanter Abend. Als ich später mit den Musikern und den Tänzern, beim Essen, sprach, war diese Szene der Lacher des Abends.
Osvaldo Pugliese verstarb am 25. Juli 1995. Ich war selbstverständlich bei seiner Beerdigung.
Ich war sicher nicht sein Freund, eher ein Bekannter, aber ich bin dankbar, ihn kennengelernt zu haben.
Seine Musik wird ewig leben!