Tantra ohne Guru
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@ Shiva:... wie siehst Du den Gesamtzusammenhang? Siehst Du eine realistische Chance, eine solche Gruppe in Richtung "altes" Tantra, "alter" linkshändiger Pfad in die Wege zu bringen, ohne dass ein Guru zur "Führung", zur Betreuung zur Verfügung steht?
Ganz ohne Guru scheint mir Tantra nicht möglich zu sein, weil doch die alten Linien irgendwie noch durchschimmern müssen - der Blick durch die Jahrtausende, der uns davor bewahrt, dass wir nur auf momentane Modetrends aufspringen, deren Lebenszeit mir immer kürzer zu werden scheint.
Die Alte Lehre in Reinform gibt's natürlich gar nicht, genauso wenig, wie einen Guru der allen unseren Anforderungen an einen guten Lehrer gerecht werden könnte. Außerdem leben wir in einer demokratisierten Welt, in der die alten Hierarchie, Gehorsams- und Hörigkeitsstrukturen keine Akzeptanz mehr haben.
Wir könnten uns umsehen, wie es in anderen Bereichen zugeht - zum Beispiel in der Wissenschaft. In der Ethik des Wissenschaftlers ist Wissen Allgemeingut und sollte öffentlich zugänglich gemacht werden. Wissenschaftliche Dispute werden ritualisiert ausgetragen - der Autor spicht nicht in Ich-Form, sondern zitiert sich selbst in derselbsen weise wie andere Wissenschaftler. Er bezieht sich dabei nicht auf die Person, sondern auf die spezielle Arbeit, aus der er einen Gedanken thematisiert. In der Interaktion spielen Kongresse eine wichtige Rolle, auf denen man sich persönlich begegnen kann. Eine weitere Errungenschaft ist das Peergroup-Review-System, das Autoren wissenschaftlicher Arbeiten vor der Verbreitung von Irrtümern schützen soll - eine Art Qualitätsmanagement.
Auch die Tantrische Lehre ist eine Wissenschaft - es gibt ja auch Tantra-Kongresse. Der Unterschied zur "normalen" Wissenschaft ist aber der, dass die Interaktion nicht nur im rationalen Denken stattfindet, sondern in tieferen Schichten, und dass es keine Sprache gibt, in der das, was da interagiert, allgemeinverständlich dokumentiert werden könnte. Wir können es nur entweder auf einer rationalen Meta-Ebene betrachten - dann bleiben aber noch viele Fragezeichen übrig - , oder wir gehen auf die Ebene der Metaphern und des Mythos - dann bleibt die Lehre lebendig und aktuell, wird aber opak gegenüber Außenstehenden, die diese Bilder nicht verstehen und entweder naiv-wörtlich nehmen oder sich den Kopf zerbrechen bei Interpretationsversuchen.
Für eine reale Tantra-Community in unserer Zeit kann ich mir vorstellen, dass man von mehreren Seiten her anfangen muss. Einerseits brauchen wir Vertrauen und körperliche Nähe, was am ehesten in einer kleinen Gruppe gegeben ist, andererseits aber auch Lehrer, die uns Schlüsselwissen vermitteln, das wir noch nicht haben, und auch Lehrer, mit denen wir mentale und körperliche Skills trainieren können, deren Erwerb rein nach trial und error Jahrtausende brauchen würde. Am ehesten geht das durch eine Vernetzung, indem kleine Gemeinschaften immer offen sind gegenüber der größeren Tantra-Community, so dass die Lehre im Fluss bleibt und der direkte und indirekte Kontakt zu "Gurus" möglich ist, ohne dass sich ungesunde Hierarchien und "Sekten" bilden. Was die kleinen Kerngruppen anbelangt, gibt es hier ein ähnliches Probleme wie bei vielen Ehen oder sonstigen Gemeinschaften in unserer modernen Gesellschaft: Sie zerfallen relativ schnell, wenn mal eine kleine Unstimmigkeit auftaucht - weil es keinen übergeordneten Rahmen gibt, der sie zusammenhalten könnte.