Die universelle Melodie
Moira hatte ein Geheimnis. Alle Menschen haben Geheimnisse und jeder glaubt, dass seines das allerschlimmste ist. Moira war nicht anders. Sie schämte sich ein wenig für dieses Geheimnis. Sie hasste es anders zu sein. Ja, sie hasste auch ihr Geheimnis, aber sie hatte auch eine zu große Angst, dass es jemand erfährt. Deshalb blieb es auch ein Geheimnis. Moira ärgerte sich jedes Mal, wenn in einem Film eine Frau beim Sex oder bei intimen Spielen stöhnend gezeigt wurde. Sie war regelrecht neidisch auf diese Frauen. Warum? Warum hatten sie etwas scheinbar so wundervolles, was sie nicht hatte?Zuerst glaubte sie, es wäre ihre Unerfahrenheit, aber sie wurde älter und nichts änderte sich. Sie wechselte ihre Partner, dachte, dass sie nur den Richtigen finden muss, damit sie endlich richtig in Gang kam, aber es blieb alles beim Alten. Sie fühlte nichts. Sie fühlte, dass ihr Körper berührt wurde, aber in ihr blieb es kalt. Kein loderndes Feuer, wie es in Romanen beschrieben wird. Kein göttliches Entzücken, nichts. Schnell hatte sie gelernt, so zu tun, als ob. Sie wollte ihren Partnern gefallen, sie mochte diesen enttäuschten Ausdruck auf ihren Gesichtern nicht, wenn sie merkten, dass es ihr keinen Spaß machte. Sie dachten meistens, dass sie damit was zu tun hätten. Sie wären nicht gut genug.
Es gab auch welche, denen es egal war. Nach einem kurzen Vorspiel und einigen schnellen Bewegungen waren sie fertig, drehten sich zur Seite und schliefen ein. Das frustrierte noch mehr. Und irgendwann hatte Moira es satt. Sie entsagte diesem Theater. Sie fing keine neue Beziehung an, hatte ihre guten Freunde, einen Job, der sie erfüllte und hatte auch sonst ein schönes Leben. Nur keinen Sex mehr. Keinen schnellen und keinen langen, keinen mit einem langjährigen Partner und keinen mit einem Mann, den sie erst vor kurzem kennen lernte. Moira schaute immer noch weg, wenn sie intime Szenen im Film sah und hörte auch gelangweilt zu, wenn ihre Freundin von dem tollen Höhepunkt erzählte, nur hatte Moira es für sich abgehackt. Es gibt doch genug Frauen, die keine Karriere machen. Sie würde eine Frau sein, die eben in einem anderen Bereich nichts zustande brachte.
Die große Wende kam, als Moira zu einem Wohltätigkeitskonzert eingeladen wurde. Sie saß in erster Reihe und freute sich auf einen schönen Abend. Der Chor sang ein Lied, dann noch eins, Moira schloss die Augen und genoss die wundervollen Stimmen. Sie ließ sich von der Musik tragen, sie hatte das Gefühl, gar nicht mehr da zu sein. Ihr Körper war immer noch in diesem schönen Kleid auf diesem Stuhl, aber sie selbst war nicht da. Weit weg war sie. Da setzten die Musiker ein. Sie begleiteten den Chor auf eine so wundervolle Art, dass Moira Gänsehaut am ganzen Körper bekam. Tränen der Freude liefen ihr über die Wangen, sie wiegte im Takt der Musik nach vorn und nach hinten und glaubte im Himmel zu sein. So müsste sich wohl sexuelle Lust anfühlen, schoss es ihr durch den Kopf.
Und in dem Moment wurden die Stimmen leiser, alle Musiker auch, nur das Kontrabass wurde lauter. Moira hatte das Gefühl, dass da nicht die Saiten des Instruments berührt werden, sondern die Saiten ihrer Seele. Sie empfand ein Gefühl, dass sie nicht kannte. Wonne? Unglaublicher Genuss? Und es steigerte sich, es juckte in ihr, sie wollte mehr und mehr und ertappte sich dabei, dass sie leise stöhnte. Moira riss die Augen auf, setzte sich kerzengerade hin, sah sich um, sah den Kontrabass-Spieler vor sich und konnte nicht glauben, was sie soeben gespürt hatte. Ihr Körper vibrierte, pulsierte, sie nahm die Gerüche um sich stärker wahr, die Farben um sie schienen prächtiger zu leuchten. Wie benommen las sie im Programmheft den Namen des Werks, das aufgeführt wurde: „Die universelle Melodie“. Den Rest des Konzerts nahm Moira wie im Nebel war, sie fuhr danach nach Hause und schlief sofort ein.
In der Früh erwachte in ihr der Entdecker-Geist. Sie holte das Programm-Heft aus ihrer Handtasche und fand dort den Namen des Kontrabass-Spielers. Nach einigen Tagen von Zögern und Grübeln kontaktierte sie den Veranstalter des Konzerts, dem sie sagte, sie würde gerne einige Musiker für ein privates Konzert engagieren. So kam sie an die Telefonnummer des Kontrabass-Spielers und er war auch bereit für sie zu spielen. Moira buchte ein teures Hotelzimmer und lud ihn dorthin ein. Er war zwar etwas überrascht, als Moira ihn alleine empfing und ihm erklärte, was er tun sollte, aber die Gage war gut und warum sollte er es nicht machen? Nur eine Bedingung hatte Moira gestellt: Der Musiker soll sich bitte die Augen verbinden. Aber für dieses Geld würde er auch auf in Badehose spielen.
Trotz anfänglicher Aufregung lief alles tatsächlich nach Plan. Moira setze sich auf die Bettkante, der Spieler saß ihr gegenüber, sie legte die Aufnahme der Chorstimmen ein und im passenden Moment setzte der Kontrabass-Spieler ein. Moira zitterte am ganzen Körper, sie biss sich auf die Lippen und konnte doch nicht ein leises Stöhnen zurück halten. Die Musik riss sie mit sich, sie hatte das Gefühl im Ozean des Vergnügens zu baden. Die Wellen wiegten sie mal sanft mal etwas stürmisch und Moira war völlig überrascht, an welchen Stellen ihres Körpers sie noch etwas fühlen konnte. Als sie schließlich dachte, sie müsste vor Lust sterben, explodierte etwas in ihrem Unterbauch. Es breitete sich rasch über den ganzen Körper aus. Moira war als hätte sie auf einmal Feuer in den Adern und nicht Blut. Ein tiefes „Ah“ entfloh ihren Lippen und sie ließ sich aufs Bett zurück fallen. Als sie zu sich kam, entlockte der Musiker seinem Kontrabass eine leise und beruhigende Melodie. Moira beendete das private Konzert, zahlte und schlief ein, sobald sie das Kissen berührt hatte.
Nun hatte Moira wieder ein Geheimnis. Sie sehnte sich nach diesen Abenden, an denen sie mit dem Musiker alleine war. Sie traute sich aber nicht mal ihrer besten Freundin davon zu erzählen, welche wundervollen Gefühle sie auf einmal empfinden konnte. Moira hatte ein Geheimnis: sie war süchtig nach diesen Abenden. Das ganze Leben war nur das „Drumherum“, es war nicht mehr wichtig. Sie lebte von einem Konzert bis zum nächsten. Bis eines Abends etwas Unerwartetes passierte. Die Augenbinde verrutschte und als Moira zu sich kam, sah sie direkt in die Augen des erstaunten Musikers. Moira wurde rot, ihre Wangen glühten, sie senkte verschämt den Blick.
• Weißt du, - sagte der Musiker leise beim Abschied, - ich habe noch nie eine so sinnliche Frau wie dich getroffen. Und ich spiele für dich sehr gerne, aber ich möchte dir einen guten Freund von mir empfehlen.
Mit diesen Worten gab er Moira ein Kärtchen und ging. „Tantra Massage“ - las Moira. Was soll sie damit? „Sexual- und Paartherapie“ - stand weiter unten. Moira lief wieder rot an. Der Musiker hatte sie durchschaut. Er kannte nun ihr Geheimnis. Und das bedeutete für sie, dass sie sich nicht mehr trauen würde, ihn zu buchen. Das Leben wurde trist und farblos, Moira ging lustlos zur Arbeit und am Wochenende war es kaum anders. Sie wollte niemanden sehen, nur zu Hause bleiben und lesen oder aus dem Fenster schauen. Bis sie eines Tages das Kärtchen in der Tasche entdeckte und unerwartet für sich dort gleich anrief. Ein freier Termin war sogar in den nächsten Tagen frei und Moira fühlte zum ersten Mal seit einer längeren Zeit so etwas wie einen Hauch von Leben in sich. Sie hatte das Gefühl, dass sie endlich etwas tat, dass sie aus diesem Grau befreien würde.
Die Praxis war leicht zu finden und schön eingerichtet. Gemütlich und einladend sah es drinnen aus. Der Therapeut bat Moira einen Tee an und aus dem Small-Talk wurde schnell ein tiefer gehendes Gespräch. Wie kam es, dass Moira auf einmal so offen über ihre zwei Geheimnisse sprechen konnte? Wie kam es, dass sie das Wort „frigide“ nicht mehr fürchtete? Sie konnte es sich nicht erklären, es tat aber gut, jemanden zu haben, der ihr zuhörte und auch verstand.
• Du willst sagen, bei dieser Tantra-Massage ist man komplett nackt? - fragte Moira und ihre Augenbrauen hoben sich weit nach oben.
Der Therapeut nickte. Es handele sich um eine Massage, die auch ein Happy-End haben könnte, aber nicht müsste. Dabei geht es darum, die Sexual-Energie zu befreien, den Körper zu fühlen, sich fallen zu lassen. Und bei diesen Worten wurde Moira bleich. Sich fallen lassen. Nein, das geht nicht. Ihr wurde klar, dass sie jedes Mal beim Sex absolut wach blieb, sie hatte Angst sich fallen zu lassen, sie war ständig halb im Gehen, halb im Fluchtmodus. Fallen lassen. Und da fiel ihr ein, wie sie sich aufs Bett fallen ließ, wenn der Musiker für sie „Die universelle Melodie“ spielte und wie göttlich dieses Gefühl war. Sie machte einen Termin für eine Tantra-Massage aus und war mal wieder über ihre Entscheidungsfreudigkeit erstaunt.
Anfangs fühlte sich Mara beklommen, als sie so fast nackt vor dem Therapeut stand. Ihren Slip hatte sie anbehalten und auch sein Angebot angenommen, dass er sich ein Tuch umbindet. Und dann war die Enttäuschung da. Mara spürte wieder nichts. Sie nahm nur wahr, dass Holzperlen-Ketten oder Federn sie berührten oder sehr ölige Hände über ihren Körper fuhren, aber das war es auch. Die Lust blieb aus.
• Lass dich fallen, - sagte da der Therapeut. - Vertraue mir, ich möchte dir nur Gutes tun. Es ist für mich eine wundervolle Aufgabe, einem Menschen so dienen zu können.
Moira versuchte es, blieb aber steif und kalt. Als ob sich die echte Moira hinter zehn Türen verborgen und versteckt hielt. Hier außen, war nur die leere Hülle.
• Kannst du mir dieses Lied vorsummen, von dem du so begeistert erzählt hast? - fragte der Therapeut. Moira nickte und versuchten sich an die Melodie zu erinnern. Sie sah den Musiker vor sich, sie fühlte die Töne, wie sie auf ihren Körper trafen und eine Welle der Lust auslösten. Moira gelang es sich fallen zu lassen, weil sie alles um sich vergaß. Sie vergaß, wo sie war, wer sie berührte. Sie vergaß sich selbst und stöhnte und schrie vor Verlangen und Begierde. Als das Feuer sich wieder aus ihrem Bauch im ganzen Körper ausbreitete und Moira das Gefühl hatte gestorben und wieder geboren zu sein, öffnete sie die Augen und kam langsam zu sich.
• Danke, - sagte sie leise und traurig zugleich.
• Gern geschehen, - lächelte der Therapeut. - Was ist los? Du siehst so traurig aus.
• Weißt du, ich dachte eine lange Zeit, dass ich keine Lust empfinden könnte, dann kam der Musiker, nun du. Irgendwie komme ich mir nicht normal vor.
• Ach, hör schon auf! Was ist schon normal? Sieh mal, du hast es geschafft, du hast dich fallen gelassen. Du hast dich dem Moment völlig hingegeben.
• Und was bringt mir das? - fragte Moira leicht verärgert. - Nun werde ich dich für dieses Vergnügen bezahlen, wie den Musiker vorher auch. Ich will aber wie alle sein. Ich will Lust beim normalen Sex empfinden.
• Und was hält dich davon nun ab? Du kennst doch nun das Geheimnis. Die universelle Melodie klingt überall und in allem. Du hast es geschafft, sie nicht nur zu hören, sondern zu fühlen. Die göttliche Kraft, sie ist in dir, du musst sie nur frei lassen, ihr erlauben zu fließen. Und der Schlüssel für dich ist eben diese eine Melodie.
Moira dachte nach und dann lächelte sie. Es war ein absolut verführerisches Frauenlächeln, das zeigte, dass sie etwas wusste, was für die anderen ein Geheimnis war.