29. August 1966
Quelle: Münchner Merkur
Es ist wie immer an diesem kalten und windigen Spätsommerabend in San Francisco. Kurz vor halb zehn tauchen die Beatles auf der Bühne auf, spielen eine knappe halbe Stunde und verschwinden wieder. Im Stadion des Candlestick Parks hört man wie immer die Lieder nicht – angesichts des enthemmten Kreischens aus Zehntausenden von Teenagerkehlen. Und doch markiert dieser 29. August 1966 eine Zeitenwende – es ist das letzte Konzert der Beatles, was niemand ahnt. Die Beatles lassen sich am Ende des Auftritts mit dem Rücken zum Publikum fotografieren, ein endgültiger sarkastischer Gruß.
Schon seit Monaten haben die vier Briten genug von dem Wahnsinn, durch den sie bei jeder Tournee müssen. Eingesperrt in Hotels, zum Schutz vor unkontrollierbaren Fans in Laderäumen von Lastwägen in die Stadien gelotst, ständig umgeben von Polizisten. Und dann ist da die Frustration, ihre eigene Musik nicht hören zu können. Das frenetische Geschrei bei den Konzerten überdeckt jeden Ton der Band. „Als Musiker wurden wir immer schlechter“, meint George Harrison später, und er ist es, der sich am vehementesten für das Ende der Live-Konzerte einsetzt. Im Sommer 1966 hat auch John Lennon die Nase voll. Aus der beiläufigen Bemerkung, die Beatles seien populärer als Jesus, entwickelt sich in den USA eine hysterische Hexenjagd. Platten werden verbrannt, der Ku-Klux-Klan mischt mit, und erstmals sind nicht alle Konzerte komplett ausverkauft. In dieser Zeit fällt der Entschluss, mit den Konzerten aufzuhören. Es ist eine überfällige Entscheidung, denn die Beatles können ihre neuen Lieder ohnehin nicht live aufführen.
Am 6. August 1966 ist ihr bahnbrechendes Album „Revolver“ erschienen, das heute als ihr bestes gilt. Sie spielen kein einziges Lied davon live, das ist mit der damaligen Bühnentechnik ausgeschlossen. Paul McCartney verkündet, auf „Revolver“ seien zuvor nie gehörte Töne zu entdecken, und das ist tatsächlich so. Mit Stücken wie „Tomorrow never knows“ oder „Eleanor Rigby“ lassen die Beatles alles hinter sich, was bis dahin als Popmusik gilt. Sie müssen es auch. Wenn sie im Geschäft bleiben wollen, müssen sie den Ton angeben, die Konkurrenz sitzt ihnen im Nacken und wirft immer aufregendere Alben auf den Markt. Im Nachhinein erscheint dieser Sommer 1966 wie eine Revolution.
Die Musiker entdecken die Möglichkeiten der Studiotechnik für sich und produzieren buchstäblich unerhörte Musik. Bis dahin sind die Studioaufnahmen die Blaupause für die Live-Auftritte, aber das ist 1966 vorbei. Die Beach Boys veröffentlichen mit „Pet Sounds“ ein derart raffiniertes Album, dass den Kollegen die Ohren schlackern. Die Kinks setzen mit „Face to Face“ einen Meilenstein, ebenso die Yardbirds mit „The Yardbirds“. Die Rolling Stones stellen mit „Aftermath“ die erste Platte vor, die ausschließlich aus Eigenkompositionen besteht, und Bob Dylan haut mit dem Meisterwerk „Blonde on Blonde“ das erste Doppelalbum der Rockmusik raus.
Die Beatles ahnen, dass ausufernde und sehr lukrative Tourneen die zunehmend zeitraubende Arbeit im Studio erschweren. Ihr erstes Album nehmen sie 1962 noch live an einem Tag auf, für „Revolver“ brauchen sie dann sagenhafte zwei Monate. Für das nächste Album, das legendäre „Sgt. Pepper“, benötigen sie fast ein halbes Jahr. Die Aufnahmesitzungen werden länger, die technischen Effekte aufwendiger, und irgendwann wissen die Beatles: Das ist es auch nicht. 1969 wollen sie erneut ein Album live einspielen und geben sogar ein allerletztes Konzert auf dem Dach ihres Bürogebäudes. Ausdruck der Sehnsucht, wieder „handgemachte“ Musik zu spielen. Viele ihrer Kollegen basteln freilich munter im Studio weiter, und das mündet in den Siebzigerjahren in furchtbaren Schwurbeleien, auf die Musiker nur kommen, wenn sie zu viel Zeit in einem Aufnahmestudio verbringen. Die Beatles haben sich da schon längst getrennt. Und heute, 50 Jahre nach dem magischen Sommer von 1966, gibt es eine große Sehnsucht nach Musik, die man auch live hören kann. Bis zur nächsten Trendwende…