Ein Urteil aus dem sicheren zeitlichen Abstand ist leicht. Und da kann es nicht mehr verwundern, dass die Beatles mit ihrem "White Album" das bewegte und bewegende Jahr 1968 krönten. "Revolution" haben gleich zwei Titel des am 22. November vor 40 Jahren erschienen Doppelalabums zum Thema. Die Botschaft der Beatles blieb aber nach einem Mediationsaufenthalt in Indien die Liebe. John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr scherten sich nicht länger um musikalische Genre-Grenzen und packten Ohrwürmer wie "Julia" und das knallharte "Helter Skelter" auf die vier Vinylseiten.
Zugleich dokumentiert die Vielschichtigkeit der 30 Lieder das Auseinanderdriften der Band, die sich zwei Jahre später auflöste. "Alles hat seine Zeit" heißt es dazu in Anspielung auf die Bibel auf der offiziellen Beatles-Webseite. "Im unvermeidlichen Aufbrechen alter Verbindungen war Raum für Wachstum", ist im Kapitel "The Beatles, 1968 - 1970" auf
http://www.beatles.com zu lesen. "John traf und heiratete Yoko (Ono); Paul traf und heiratete Linda. George reifte weit über sein Alter hinaus, richtete sich in seinem spirituellen Raum ein und drückte dies auch im Schreiben klassischer Lieder aus; Ringo schrieb nun seine eigenen Stücke und wurde allgemein als hervorragender Schlagzeuger und sehr guter Schauspieler anerkannt. Alles hat seine Zeit."
Vier gegen den Produzenten
Die Aufnahmesessions waren chaotisch und lang. Produzent George Martin setzte sich nicht mit seinem Vorschlag durch, nur die besten Songs der Indienreise auf ein normales Album zu pressen. Er zog sich schließlich aus dem Prozess zurück. Ringo Starr reiste sogar ab, weil er sich von den anderen von oben herab behandelt fühlte. Harrison brachte seinen Freund Eric Clapton mit, der das Solo von "While My Guitar Gently Weeps" spielte: Er wollte so sicherstellen, dass der Song auf das Album kam. Von Harrisons Solo-Demo waren Lennon und McCartney nämlich wenig beeindruckt, wie es in der "Harrison"-Biografie heißt. "Clapton... erfuhr am eigenen Leib, wie schlecht es um die Gruppe stand - Lennon war bei keiner seiner Einspielungen anwesend. Aber Harrisons Strategie ging auf: Einen Titel mit einem derart einzigartigen Gitarrensolo konnten die übrigen Bandmitglieder nicht ablehnen." Zwei Jahre später kommentierte Harrison die Auflösung der Band: "Das Ende der Beatles war der befriedigendste Augenblick meiner Karriere."
"Hey Jude" nur als Single veröffentlicht
Zeitgenossen, auch Kritiker, bekamen damals noch nicht allzuviel von den internen Spannungen mit. Die Songs auf dem "Weißen Album" sind wie in keinem anderen Beatles-Werk davor den federführenden Songschreibern zuzuordnen: Deutlich hört man John Lennon & The Beatles zum Beispiel in "Yer Blues", "Sexy Sadie" und "Revolution", ebenso klar Paul McCartney & The Beatles etwa in "Blackbird", "Rocky Raccoon" und "Helter Skelter". Für Harrison & The Beatles blieben "Savoy Truffle" und "Piggies", Starr durfte mit den Beatles "Don't Pass Me By" singen. Das Album hieß eigentlich nur "The Beatles". Wegen seines schlicht weißen Covers mit der erhabenen Prägung des Bandnamens und einer eingeprägten Seriennummer ging es aber als "White Album" in die Rockgeschichte ein. Dazu gab es ein vom Pop-Art-Künstler Richard Hamilton entworfenes Poster, auf dessen Rückseite sämtliche Texte abgedruckt waren. Claptons Mitwirkung ist nirgends dokumentiert.
Bei den Sessions entstand auch "Hey Jude": Der Song erschien als Single und wurde ein Riesenhit. Auf der B-Seite war eine schnellere Version von "Revolution". Das war alles andere als ein Loblied auf die dogmatischer werdende linke Bewegung. "Wenn es um Zerstörung geht, könnt ihr nicht auf mich zählen" singt Lennon - "you can count me out". Und wer Bilder vom Vorsitzenden Mao vor sich her trage, werde sowieso mit niemandem klar kommen - "you ain't going to make it with anyone, anyhow". "Sexy Sadie" bracht Lennons zornigen Abschied von Beatles-Guru Maharishi Mahesh Yogi auf den Punkt; Anlass soll dessen Versuch gewesen sein, sich an die Schauspielerin Mia Farrow heranzumachen. Mit den Beatles waren viele andere Künstler bei dem Guru, darunter Mike Love von den Beach Boys und Donovan.
Tragische Verquickung mit Manson-Morden
McCartney steuert mit "Blackbird", "Mother Nature's Son" und "Martha My Dear" melodische Stücke bei, mit "Helter Skelter" aber auch eines der bis dato härtesten Stücke der Rockmusik. Der Sektenführer Charles Manson wähnte, darin versteckte Botschaften zu hören, die die von ihm befohlenen Morde rechtfertigten, unter anderem an der jungen Schauspielerin Sharon Tate. Wie schlicht waren dagegen "Obladi Oblada" und die "Continuing Story of Bungalow Bill", bei dem erstmals Yoko Ono zu hören war. "Glass Onion" war voller Zitate: "Strawberry Fields", "I am the Walrus", über das enthüllt wird: "The walrus was Paul", "Lady Madonna", "Fool On The Hill", "Fixing A Hole".
"Back In The USSR" und "Dear Prudence" wurden ohne Starr eingespielt, der von den anderen doch vermisst und nach seiner Rückkehr zu den Sessions mit einem mit Blumen geschmückten Schlagzeug begrüßt wurde. "Happiness Is A Warm Gun" zeigt Lennons Fähigkeit zu jähen Stimmungswechseln genauso, wie "I'm So Tired" seine Überspanntheit. "Why Don't We Do It In The Road" klingt wie ein Fragment, hat aber bis heute nichts von seiner Intensität eingebüßt, die Schönheit von "I Will" bleibt zeitlos. Am umstrittensten ist bis heute die über acht Minuten lange Klangcollage "Revolution 9" unter Federführung von Lennon und Ono.
Zufälligerweise lässt Sir Paul McCartney in dieser Jubiläumswoche sein Experementierstück "Carnival of Light" aufführen, das die anderen Beatles damals verworfen hatten. McCartney und Starr sind nach der Ermordung Lennons 1980 und dem Krebstod Harrisons 2001 die beiden überlebenden Beatles - die Stimme der beiden anderen wird gerade bei Jahrestagen wie diesem vermisst. Das "White Album" hat 40 Jahre nach seinem Erscheinen nichts davon eingebüßt, was die Faszination der Beatles ausmacht. Chaotisch und vielschichtig entführt es in den musikalischen Kosmos einer Band in ihrem künstlerischen Zenit. Zugleich ist es ein Dokument des Scheiterns: Weil ein jegliches seine Zeit hat - auch gemeinsam Musik zu machen und aufzuhören, gemeinsam Musik zu machen.