Dornröschen
Mit ausdrücklicher Erlaubnis von @*****har und zu meiner großen Freude möchte ich euch einladen, hier zu lesen. 💕Kurz vorausgeschickt:
Dea war ein Mitglied der Gruppe Kurzgeschichten und musste nach schwerer Krankheit leider von uns "gehen".
Diese Geschichte ist Bestandteil eines kleinen Buches, das etliche Mitglieder der Gruppe, in vielen einzelnen Geschichten, für sie zusammengestellt haben.
Zur Erinnerung an Dea 💫✨ und weil besonders diese Geschichte für uns alle einen Schatz birgt.
Danke, lieber Antaghar, für deine Erlaubnis hierzu. 🌹
Übrigens ist dieser Thread öffentlich, es können und dürfen auch Mitglieder außerhalb der Gruppe etwas dazu schreiben, wenn sie möchten.
Antaghar
28. Jun 16
Rosen, Dornen und dieses verdammte wundervolle Leben
Liebe Dea,
auch ich hätte gerne eine Geschichte für Dich geschrieben, doch dann hat mich die Wirklichkeit überholt. Und so erzähle ich Dir nun keine Geschichte, sondern nur von einer sonderbaren Begebenheit. Noch niemals habe ich etwas erlebt, das so viele Fragen offen lässt und dennoch auf viele Fragen eine Antwort gibt. Vielleicht geht es Dir ja so ähnlich?
Etwas sagt mir, dass dieses Erlebnis nicht nur mit mir, sondern auch mit Dir zu tun hat, dass ich Dir von dieser Begegnung unbedingt erzählen muss. Und das tue ich hiermit - ohne Schnörkel, ohne literarische Kunstfertigkeit, einfach nur so, wie ich es Dir auch persönlich erzählen würde.
Neulich, während eines langen Spaziergangs, dachte ich über die Geschichte nach, die ich für Dich schreiben wollte, und es war mir, als müsste es für Dich etwas völlig anderes, etwas Besonderes werden. Aber was? Bei diesem Gedanken blieb ich abrupt stehen. Ich hatte wohl aus den Augenwinkeln unbewusst eine Kleinigkeit wahrgenommen. Bei einem Haus am Waldrand war ich angelangt, das ich bisher, wenn ich dort vorbei kam, niemals sonderlich beachtet hatte. Und da entdeckte ich sie, die Schrift an der Hauswand, direkt über einer Tür und auffallend groß: Dornröschen.
Ja, ich hatte auf einmal weiche Knie. 'Das kann doch jetzt nicht wahr sein', fegte es mir durch den Kopf, 'und erst recht ist das kein Zufall'. Da bemerkte ich, dass zwei Türen des Hauses offen standen. Eine seltsame Scheu hielt mich jedoch davon ab, dieser "Einladung" zu folgen. Das Haus wirkte zwar nicht bewohnt, aber auch keineswegs unbewohnt. Vielleicht wird es ja gerade renoviert?
Also griff ich erst mal zu meinem Handy und machte damit ein paar Aufnahmen von diesem Gebäude, das eine unerklärliche Anziehungskraft auf mich ausübte. Schließlich schlenderte ich in den Garten, das hielt ich für unverfänglich. Und vielleicht hielt sich ja doch jemand hinter dem Haus auf?
Dort stand eine nahezu verfallene, hölzerne Bank. Mir war mehr als seltsam zumute, als ich sie betrachtete, was sich noch verschlimmerte, als sich eine uralte Schaukel leicht im Wind zu bewegen begann. War es wirklich nur der Wind? Denn plötzlich glaubte ich, das Lachen eines Kindes zu vernehmen. Und mit einem Mal konnte ich etwas erkennen, das mir den Atem raubte: ein kleines Mädchen in einem altertümlichen weißen Kleid saß auf der Schaukel. Sein Lachen kam von weit her und war, ebenso wie das Kind, rasch wieder verschwunden, als hätte der Wind es mitgenommen auf seinem Weg. Wieder bekam ich weiche Knie und setzte mich vorsichtig auf den Rest der Bank.
"Ja, so ist das damals gewesen", sagte da eine knorrige Stimme neben mir in waschechtem Schwäbisch. Neben mir saß eine uralte Frau - vor Schreck wäre ich beinahe von der Bank gefallen. Heute kann ich nicht begreifen, warum es mir nicht sofort aufgefallen ist: eine Dame dieses Alters konnte unmöglich auf dem halb verfallenen Rest der Bank sitzen, ohne dass das morsche Holz zusammenbrach. Doch es fiel mir nicht auf. "Wie meinen Sie das?", fragte ich stattdessen, als wäre es das Normalste auf der Welt, neben runzligen, alten Frauen auf einer Bank zu sitzen.
"Ich hab damals so gern geschaukelt, als ich noch ein Kind war", antwortete sie mit feuchten Augen.
Mir schwirrte unvermutet ein Bienenschwarm im Kopf umher. "Moment", sagte ich, und ich fürchte, meine Stimme hat dabei mehr gezittert, als mir lieb war, "Sie glauben also ernsthaft, das Kind gewesen zu sein, das ich eben gesehen hab?"
"Ja", meinte sie trocken. "Das war natürlich nur ein Trugbild. Aber ich bin froh, dass Sie es gesehen haben. Sie sind endlich der Dritte, der es sieht, und darauf hab ich nun schon seit Jahren gewartet."
"Der Dritte? Welcher Dritte?"
"Fragen Sie doch nicht so viel! Sie sind der dritte Mann, der hier sitzt und das Kind sieht, das ich damals war. Also nichts Besonderes. Jetzt kann ich endlich erledigen, was ich zu tun hab. Wurde aber auch Zeit."
Ich verstand immer noch nicht, um was es ging, und versuchte verzweifelt, einen klaren Kopf zu bekommen. Währenddessen sprach sie mit ihrer schnarrenden Stimme unbeirrt weiter: "Drei Männern muss ich etwas erklären, damit ich endlich meine Ruhe hab. Und Sie sind eben der Dritte."
"Wieso müssen Sie das? Wer sagt das? Und warum ausgerechnet drei?"
"Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich hatte nun mal drei Männer in meinem Leben. Ist alles lang, lang her. Und es ist wohl so etwas wie eine Strafe, dass ich jetzt drei Männern etwas erklären soll."
"Um ehrlich zu sein - ich verstehe überhaupt nichts. Übrigens, wenn ich das fragen darf: Sie wohnen hier?"
"Nein, nein. Ich hab hier mal gewohnt. Ist lange her. Meine Eltern haben mich Rose getauft, eigentlich Rosemarie. Meine Mutter nannte mich immer Röschen. Wie albern, nicht wahr? Und weil ich wohl ein wenig kratzbürstig war, rief mein Vater mich immer Dornröschen. Deshalb auch die Schrift über dem Eingang. Die hat er damals extra für mich anbringen lassen, weil es ja mal mein Haus werden sollte. Jetzt wohne ich schon lange nicht mehr hier und hab eigentlich nur noch auf den dritten Mann gewartet."
Vielleicht kannst Du Dir, liebe Dea, meine Verwirrung vorstellen. Nicht einen einzigen klaren Gedanken konnte ich mehr fassen, und so nickte ich nur noch resigniert und beschloss, einfach zuzuhören. "Dem ersten Herrn, der vor einigen Jahren hier saß, hab ich erklären müssen, was Liebe ist. Dem zweiten musste ich beibringen, dass es die Liebe gar nicht gibt, und ich kann ihnen sagen, das war gar nicht so einfach. Und nun ..."
Ich konnte nicht anders, ich musste sie einfach unterbrechen: "Wieso soll es denn um Himmels willen keine Liebe geben?"
Sie seufzte. "Jetzt geht das schon wieder los! Also gut, dann versuch ich's noch mal." Einen Augenblick hielt sie inne und schien sich zu sammeln. "Mit der Liebe ist das so: Sie ist ja kein Ding und kein Wesen. Sie geht nicht spazieren, setzt sich nicht auf uralte Bänke, sie redet nicht mit noch älteren Frauen, sie fällt auch nicht vom Himmel oder taucht plötzlich auf, sie ist nicht auf einmal da und geht auch nicht plötzlich wieder weg. Lieben ist etwas, das man tut, es ist kein Zustand, sondern ein Tun. Man tut es, oder man tut es nicht, man liebt oder man liebt nicht."
Ja, das leuchtete mir ein. Und hatte ich nicht auch schon so ähnlich gedacht? "Und das mussten Sie also jemandem erklären? Wieso das denn?"
Sie ignorierte meine Frage. "Wie gesagt, hatte ich in meinem Leben drei Männer. Und ich hab alle drei niemals geliebt. Ich hab sie gebraucht, ich hab sie benutzt, ich hab mich selbst durch sie besser, sicherer, geschätzt und geliebt fühlen wollen - alles mögliche. Aber geliebt? Nein, das hab ich sie alle nicht." Sie seufzte ein weiteres Mal und blickte einen Moment lang versonnen in die Ferne. Dann stützte sie ihr Kinn auf einen alten, krummen Stock und redete weiter: "Und so wurde mir eines Tages eben gezeigt, was Lieben ist und wie man wirklich liebt. Und das muss ich nun drei Männern erklären, die hier vorbei kommen und mich erkennen. Sozusagen als Ausgleich oder Strafe."
"Gute Frau, bei allem Respekt - ich verstehe immer noch nicht ..."
"Ist auch gar nicht nötig. Ich erkläre Ihnen jetzt, warum so vieles in der Welt falsch läuft. Das ist meine Aufgabe, damit ich endlich meine Ruhe hab. Mehr müssen Sie gar nicht wissen. Also hören Sie mir jetzt bitte einfach mal zu!"
Jählings spürte ich ein sonderbares Kribbeln. Wie vor einem heftigen Gewitter, wenn eine bestimmte Spannung in der Luft liegt und man genau spürt, dass gleich etwas über einen hereinbricht. "Das ist so", setzte die alte Dame ihren Gedanken fort, und ich spürte deutlich, dass es ihr viel Mühe bereitete, "wir alle haben in unserer Kindheit viel zu wenig von dem bekommen, was wir gebraucht haben. Wir wurden zu wenig geschätzt, zu wenig beachtet, zu wenig respektiert - und besonders zu wenig geliebt. Wir alle haben da einen riesigen Mangel. Und den versuchen wir, irgendwie auszugleichen, unser gesamtes Leben lang. Wir wollen sozusagen das Loch in unseren Gefühlen füllen. Und deshalb wollen wir alle im Übermaß gesehen, gehört, geschätzt, anerkannt, respektiert und vor allem geliebt werden. Das ist auch verständlich, nur geht dabei leider etwas verloren. Vor lauter Gier, das alles nun aber endlich von irgend jemandem zu bekommen, sind wir nur noch blindlings auf der Suche, finden aber nur sehr selten das, wonach wir uns sehnen. Denn allen anderen geht es ebenso wie uns: Sie haben auch zu wenig davon und wollen es auch unbedingt haben, sie sind genau so wie wir selbst auf der verzweifelten Suche danach."
Ich nickte, was sie mit einem winzigen Lächeln quittierte, und ich glaubte, so langsam zu verstehen, worauf sie hinaus wollte. Sie fuhr unbeirrt fort: "Weil wir alle viel zu wenig von all dem haben, wollen wir alle andauernd geliebt werden."
Alle sind hungrig, keiner wird jemals richtig satt. Ja, da ist was dran, dachte ich. Und wer ständig Hunger hat, wird anderen eher wenig oder gar nichts zu essen geben, sondern erst mal gierig nach allem sein, was auch nur ein klein wenig so aussieht wie etwas, das uns nähren könnte. Mir kam das durchaus bekannt vor.
"Ich kenne das gut, ich weiß, wovon ich rede", sprach die alte Dame weiter. "Und das ist ja das Kreuz mit uns Menschen. Wir merken irgendwann gar nicht mehr, dass auf diese Weise keiner genug bekommt. Es gibt ja keiner was, alle wollen erst mal was haben. Und weil sie deshalb niemals genug davon kriegen, um was es eigentlich wirklich geht, werden sie gierig nach allem, was ein klein wenig das Gefühl ersetzen könnte, sich geliebt zu fühlen. Deshalb will auch ein Reicher noch mehr Geld, und wer schon ein Haus hat, will noch ein Haus, am besten ein größeres und schöneres. Wer Macht hat, will noch mehr Macht. Und wer ... ach, Sie wissen schon, was ich meine. Gell?"
Ich nickte, und sie schien aufzuatmen und schwieg eine Weile. Es war ihr sichtlich immer schwerer gefallen, das alles in Worte zu fassen. Irgendwie wirkte es auf mich, als würde sie von Minute zu Minute durchscheinender. Was für ein verrückter Gedanke! Ich schüttelte den Kopf, als könne ich diesen absurden Gedanken damit von mir abwerfen. Und um mich noch mehr davon abzulenken, nahm ich die Gelegenheit wahr, nun endlich zu fragen: "Darf ich so unhöflich sein und rasch mal nach Ihrem Alter fragen?"
Sie lachte leise. "Sicher. Bin längst aus dem Alter raus, in dem ich das unhöflich gefunden hätte. Ich bin neunundneunzig."
"Oh", entfuhr es mir. "Wollen Sie sich nicht lieber ein Weile ausruhen? Wir können gerne morgen weiter miteinander reden."
"Kommen Sie mir jetzt bloß nicht damit! Nun bin ich fast fertig, da werde ich doch wohl noch ein paar Minuten aushalten." Und schon ging es weiter: "Am Ende unseres Lebens, glauben Sie mir das bitte, kommt es überhaupt nicht darauf an, wie oft und wie sehr wir geliebt worden sind. Es kommt viel mehr darauf an, wie oft und wie kraftvoll wir geliebt haben. Würden wir Menschen, so blind, dumm und krank wir nun mal vor lauter Bedürftigkeit sind, immer daran denken und stets mehr geben anstatt nur zu suchen, hätten wir alle eine bessere Welt. Dann hätte jeder genug."
"Ganz so einfach ist es sicher nicht", wagte ich zu erwidern. "Wenn man nicht genug hat, kann man auch nicht viel geben."
Sie kicherte. "Dachte ich es mir doch! Immer das gleiche Geschwätz. Wir alle haben doch genug, wenn wir nur wollen. Wir sind ein Teil des Ganzen, wir hängen mit allem zusammen. Und wir sind deshalb auch niemals allein. Wäre uns das bewusst, würden wir endlich wieder begreifen, dass wir alle unendlich geliebt sind. Vielleicht nicht von Menschen, vielleicht nicht von denen, bei denen wir es gerne hätten. Aber wir alle werden geliebt. Nennen Sie es Gott oder wie immer Sie wollen, doch wir werden geliebt. Sonst wären wir nicht hier. Wir haben es nur vergessen. Diese Quelle gibt uns Kraft und Liebe, doch wir trinken nicht mehr von ihr."
Ich musste sie ziemlich verdattert angesehen haben, denn sie fuhr fort: "Ja, da gucken Sie dumm aus der Wäsche! Aber auch Sie werden es eines Tages begreifen. Wir Menschen sind nicht so wichtig, wie wir manchmal denken, und ganz bestimmt sind wir nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber wir sind auch nicht so unwichtig, wie wir alle manchmal glauben, sonst wären wir nicht da. Hab ich nicht recht?"
Damit erhob sie sich, hielt sich ihren offenbar schmerzenden Rücken und brummte: "So, jetzt ist das endlich auch erledigt. Leben Sie wohl und denken Sie immer daran: Weil zu wenig geliebt wird, wird keiner satt. Und deshalb haben alle viel zu viel Hunger nach Liebe. Also gibt es nur eines, was zu tun ist. Sie wissen schon ..." Ohne ein weiteres Wort humpelte sie mit ihrem alten Krückstock davon.
Als ich mich nach ihr umwandte, war sie bereits verschwunden. Da saß ich also auf diesem kläglichen Rest von Bank und fühlte mich wie ein dummer Schuljunge, der nicht mal das Einmaleins begreift. Und ich wusste nicht, ob ich nun lachen oder heulen sollte.
Nach einer Weile erhob ich mich und setzte nachdenklich meinen Spaziergang fort. Erst Stunden später merkte ich zu Hause, dass ich mein Handy bei der Bank vergessen hatte, setzte mich ins Auto und fuhr zurück zu diesem alten Haus. Auf der Fahrt fragte ich mich, ob ich das alles nicht doch nur geträumt hatte, ob es das Haus überhaupt gibt und warum ausgerechnet 'Dornröschen' über der Tür steht. Hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Das Haus war natürlich immer noch da. Auch die Schrift an der Wand. Beide Türen standen auch dieses Mal offen. Schnurstracks ging ich in den Garten. Die Schaukel war völlig hinüber, da konnte unmöglich jemand geschaukelt haben, doch die alte Frau hatte ja betont, dass es nur ein Trugbild gewesen sei. Die Bank war in einem erbarmungswürdigen Zustand. Ein Wunder, dass ich überhaupt auf ihr unbeschadet gesessen bin. Und noch verwunderlicher, dass da wirklich eine uralte Frau neben mir gesessen haben soll. Undenkbar!
Das Handy war unauffindbar. Also betrat ich nun doch das Haus und rief laut: "Hallo! Ist da jemand?" Aber da war keiner. Unentschlossen stand ich eine Weile vor dem Eingang und überlegte angestrengt, wo ich das Handy noch hingelegt haben könnte, als ein Traktor um die Ecke bog und anhielt. "Was machen Sie denn hier?", fragte der Mann in breitestem Schwäbisch und stieg ächzend von seinem ziemlich klapprig wirkenden Gefährt.
So kurz wie möglich schilderte ich ihm, dass ich mir vorhin dieses wundervolle Haus und den Garten angesehen, dabei ein paar Fotos gemacht und dann wohl das Handy hier vergessen habe. "Ach? Ihnen gehört das also?" brummte er. "Hab's sicherheitshalber mit rein genommen. Warten Sie kurz." Er verschwand im Haus und kam wenig später mit dem Handy zurück. Als er es mir reichte, blickte er mich merkwürdig an. "Ist es das?"
Ich nickte, bedankte mich und wollte gerade zu meinem Wagen gehen, als er rief: "Einen Augenblick noch!" Ich blieb stehen und wandte mich um. "Sie haben niemanden hinter dem Haus gesehen?", fragte er.
"Doch. Eine sehr alte Dame hat kurz mit mir geredet."
Er atmete sichtlich erleichtert auf. "Dann ist's ja gut. Sie waren dann wohl nun endlich der Dritte."
Mir stockte der Atem. Jetzt kam dieser schrullige und wortkarge Kerl mit der gleichen verrückten Geschichte. Unglaublich. "Welcher Dritte?"
Er winkte ab. "Nicht wichtig", brummte er. "Ich bin einfach nur froh, dass es vorbei ist. Das muss genügen."
Doch ich ließ nicht locker. "Meinen Sie nicht, dass Sie mir das nun doch erklären sollten?"
Ungerührt antwortete er: "Nein, das meine ich nicht. Warten Sie noch einen Augenblick!" Er begab sich noch mal ins Haus und kehrte nach zwei, drei Minuten wieder zurück. "Es ist gut", sagte er , "es ist endlich gut. Sie können also beruhigt nach Hause fahren."
"Was ist gut?", wollte ich wissen.
Er schüttelte den Kopf, wollte offenbar nicht mehr erzählen. "Ich sagte doch, es ist gut. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen wirklich. Sie haben da was Gutes getan."
"Das ist ja schön und freut mich", antwortete ich. "Doch nun wüsste ich schon noch gerne, was ich Gutes getan haben soll."
"Wissen Sie, ich rede nicht gern darüber. Belassen wir's doch einfach dabei. Nur so viel kann ich sagen: Sie haben in gewisser Weise mit meiner Großmutter gesprochen. Sie wurde übrigens manchmal Dornröschen genannt, daher der Name dieses Hauses. Sie war wohl eine eigenwillige Person mit Ecken und Kanten gewesen. Und irgendwas wollte sie um jeden Preis noch erledigen, und ich weiß nun, dass es sie es getan hat. Sie waren der dritte Mann, mit dem sie unbedingt sprechen wollte, warum auch immer. Und nun ist sie fort."
"Wie meinen Sie das? Fort?"
"Lachen Sie mich jetzt bitte nicht aus, sonst sag ich kein Wort mehr. Sie ist vor fast zwanzig Jahren in einem gesegneten Alter gestorben. Neunundneunzig. Aber irgendwie hat sie sich immer noch hier rumgetrieben. Wir haben's beim Renovieren immer wieder gemerkt, fragen Sie jetzt aber bitte nicht, woran. Ich werde das nicht erzählen. Und jetzt ist sie endgültig gegangen. Damit hab ich nun aber wirklich genug gesagt ... Und ich will niemals wieder darüber reden."
Und er drehte sich wort- und grußlos um und stiefelte ins Haus. Ich bin wohl einfach zu rücksichtsvoll, ich wollte ihn nicht weiter bedrängen. Also stieg ich ins Auto und fuhr nach Hause. Dort wollte ich die Fotos aus dem Handy auf mein Laptop übertragen, doch da waren keine Fotos. Wurden sie gelöscht? Ich war mir absolut sicher, ein paar Bilder geschossen zu haben. Ein weiteres Mal verwirrt fuhr ich zu dem Haus, es sind zum Glück nur wenige Kilometer. Der Mann, wohl ein Bauer, war nicht da, doch sonst war alles wie vorher.
Ich machte wieder ein paar Aufnahmen, und dieses Mal waren sie auch noch auf dem Handy, als ich wieder zu Hause war. Ich betrachtete die Bilder auf dem Laptop, und dabei war mir mehr als sonderbar zumute. Ich wusste nun, dass ich Dir, liebe Dea, keine Geschichte zu erzählen habe, dass ich nichts für Dich erfinden und erdichten werde, sondern Dir unbedingt etwas erzählen muss, das ich genau so erlebt und wahrgenommen habe. War es real gewesen oder nur ein Traum, pure Einbildung oder gar eine Vision? Hatte ich womöglich mit einem Gespenst geredet?
Ich weiß immer noch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Ich hab auch keine Ahnung, was ich mit all dem anfangen werde. Ich bin keineswegs sicher, dass diese alte Dame (oder ihr Geist?) mit allem recht hat, aber ich halte es zumindest für sehr nachdenkenswert. Bestimmt werde ich auch künftig noch oft an diesem Haus vorbei kommen, mal zu Fuß, ein anderes Mal mit dem Auto. Ja, vielleicht begegne ich mal wieder diesem Mann auf dem Traktor und winke ihm von weitem zu. Nein, ich werde ihn nicht mehr auf seine Großmutter ansprechen. Und auch der alten Dame werde ich wohl niemals mehr begegnen. Möge sie nun endlich ihre Ruhe gefunden haben.
"Am Ende unseres Lebens kommt es nicht darauf an, wie oft und wie sehr wir geliebt worden sind. Es kommt viel mehr darauf an, wie oft und wie kraftvoll wir geliebt haben." Irgendwo und irgendwann hab ich diese oder so ähnliche Zeilen schon mal gelesen. Ich hab keine Ahnung, wann und wo, doch dieses Mal, das weiß ich nun, werde ich sie stets zu beherzigen versuchen.
In diesem Sinne, liebe Dea, wünsche ich Dir alles nur erdenkliche Liebe und Gute, welchen Weg Du nun auch immer gehen magst. Und ich danke Dir dafür, dass Du dieses Erlebnis mit mir teilst ...
@*****har