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Der Geist der Weide

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Themenersteller Gruppen-Mod 
Der Geist der Weide
Mai 1841

Franziska streicht sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht und fährt fort, ihre Ernte auf dem Holztisch auszubreiten. Kamille, Schafgarbe, Löwenzahn und Birkenblätter. Konzentriert fächert sie die Blätter zum Trocknen auf. Sie hat alle Heilpflanzen gefunden und gesammelt, die Pater Anselm ihr aufgeschrieben hat. Er soll stolz auf sie sein! Anselm kennt die heimischen Kräuter wie kein anderer, seine Heilkünste sind weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Sie sieht ihn vor sich, wie er sie mit seinen strahlend blauen Augen anlächelt, wenn sie etwas gut gemacht hat. Vielleicht darf sie ihm sogar dabei helfen, die Heilkräutertinkturen anzusetzen. Träumerisch blickt sie hinaus in den einsetzenden Mairegen, der den betörenden Duft des Flieders vor dem Fenster zu ihr ins Zimmer trägt.

Aus dem Flur vor Anselms Laboratorium ertönen aufgeregte Stimmen.
„Brunhilde, hast du's schon vernommen? Pater Anselm ist verhaftet worden!“
„Wundert dich das etwa?! Hab ich's dir nicht schon vor Wochen gesagt? Der redet sich noch um Kopf und Kragen, ich wusste es!“
„Brunhilde, so langsam wirst du zu einer galligen, greisen Vettel! Sie haben ihn abgeführt und in den Kerker gebracht! Wer weiß, ob er dort lebend wieder rauskommt …“
„Magda, das hat er sich selbst eingebrockt. Er hat es förmlich herausgefordert, wenn du mich fragst. Seine flammenden Reden von Gottes Allmacht und Herrlichkeit auf Erden!“ Brunhilde schnaubt vernehmlich. „In diesen Zeiten sollte er wirklich vorsichtiger sein mit seinen provokanten Thesen.“
„Brunhilde, das ist nicht gerecht! Keiner der Äbte hat sich so für uns Schwestern eingesetzt wie er. Anselm ist ein Segen für unser Kloster, sein Wissen über Pflanzenheilkunde und Arzneien ist phänomenal ... ach, es ist ein Unglück.“ Magda schnäuzt sich geräuschvoll.
„Na, na, nun beruhige dich. Er wird schon wieder zu uns zurückkommen, wirst schon sehen.“
„Glaubst du das wirklich? Seit das Konkordat von Bismarck in Kraft ist, gibt es wenig Hoffnung. Erinnerst du dich an den Jesuitenmönch, den sie angeklagt haben, erst vor zwei Wochen? Die Schergen haben ihn halb tot geschlagen, munkelt man. Und seine Schriften haben gebrannt wie Zunder, Brunhilde! Mir ist bange!“

Erstarrt steht Franziska an der Tür und will nicht glauben, was sie gerade gehört hat. Pater Anselm im Kerker – das darf nicht sein! Sie kämpft gegen die Tränen an. Lässt alles stehen und liegen und flieht aus dem Kloster hinaus in den Regen. Die Röcke hoch gerafft, läuft sie blindlings hinunter bis zum Fluss, an dessen Mäander mehrere hohe Weidenbäume stehen. Nass bis auf die Haut findet sie Schutz unter einem dichten grünen Blätterdach.

Was soll sie nur tun, wenn Anselm nicht zurückkommt? Im Kloster wird sie nur geduldet. Franziska spielt zwar mit dem Gedanken, Novizin zu werden, aber sicher ist sie sich keineswegs. Ihre Gefühle für Anselm sind verwirrend intensiv. Manchmal kann sie kaum einen klaren Gedanken fassen in seiner Gegenwart. Einige der Nonnen reden schon über die junge Frau, die dem Pater nicht von der Seite weicht.

Zurück ins Haus ihrer Eltern will sie nicht mehr. Bei ihrem letzten Besuch kam es zum Streit mit den Eltern. Ihre Mutter redete ihr ins Gewissen, endlich zur Vernunft zu kommen und einen der Kandidaten zu heiraten, den der Vater für Franziska ausgesucht hat. Franziska weigerte sich. Sollte sie so enden wie ihre Mutter, die ihr Leben im Dienste ihres Herrn Gemahls fristet? Niemals! Sie wird weder ihren Körper noch ihre Seele verkaufen für die Sicherheit einer Verbindung mit jemandem, den sie nicht liebt.

Franziska lehnt sich an den Stamm der Weide und lässt ihren Tränen endlich freien Lauf. Sie schluchzt bitterlich, sie weint, bis Schmerz und Verzweiflung aus ihr heraus geflossen sind. Der Regen hat aufgehört. Sie fühlt sich müde und leer und seltsam ruhig. Mit ihrer Zungenspitze kostet sie das Salz ihrer Tränen. Vereinzelt fallen Regentropfen von den Zweigen auf ihre Haut. Sie sieht hoch in die grünen Blätter der Weide, die im Licht golden schimmern. Und spürt die pulsierende Kraft, die von dem Baum auf sie übergeht. Sie fühlt sich so geborgen wie noch nie ihrem Leben.
An den Weidenstamm geschmiegt, lauscht sie dem Gesang des Windes in den Zweigen. Sie schläft ein und träumt, von Hüter der Weide, der sich zärtlich über sie neigt. Er wiegt sie in seinen Armen und flüstert ihr von den roten Monden im Monat Mai und von den freien Frauen, die sich nachts bei Vollmond im Wald versammeln, um zu tanzen. „Du triffst sie dort heute Nacht, Franziska“, flüstert der Geist der Weide.

Als Franziska erwacht, dämmert bereits der Abend. Sie streckt ihre steifen Glieder und erhebt sich. Plötzlich ist ihr federleicht ums Herz. Der Regen und die Tränen haben alles Schwere hinweggeschwemmt. Staunend betrachtet sie das Baumwesen, das ihr soviel Trost und Kraft geschenkt hat. Sie streicht zärtlich über seine raue Rinde, bedankt sich bei ihm und macht sich auf den Weg zur Waldlichtung. Der Geist der Weide bewegt seine Äste zum Abschied und sieht ihr lächelnd nach.

(C) IntoTheWild63

Die Geschichte entstand im Rahmen des 8-Worte-Spiels der Kurzgeschichtengruppe.
Das Bild des Baumwesens trug ich schon sehr lange in mir. :-)

Der Geist der Weide - Acryl auf Leinwand, 50x70 cm
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