Verführung der dritten Art
Er genoss den Ausblick durch das bis zum Fußboden reichende Fenster auf den Ziegelsee unter ihnen. Das Wasser reflektierte den Lichterschein der nächtlichen Schweriner Innenstadt und malte lustige Kringel aus Licht und Schatten an die Wände des Schlafzimmers. „Du wohnst schön hier“, flüsterte er.
Ihre Antwort war ein Katzenschnurren. Sie atmete noch immer heftig und der Schweiß ließ ihre Haut glänzen, als wäre sie aus Silber. Sie richtete sich auf, öffnete im Sitzen ihren Strumpfhalter und zog die Strümpfe aus.
„Du bist eine der wenigen Frauen, die ich kenne, die keine Strümpfe brauchen“, murmelte er.
Sie lachte leise. „Dankeschön. Der Hormonerguss macht dich wohl mutig? Aber keine Frau der Welt braucht heute noch Strümpfe. Männer brauchen sie. Ich wollte dir eine Freude machen.“
„Ich habe doch nie ...“
Ihre duftende Hand auf seinem Mund stoppte ihn. „Du redest nicht viel. Das macht es leicht, dir genau zuzuhören. In manchen deiner Ansichten bist du ein Dinosaurier. Aber ich mag das an dir. Und noch einiges mehr. Zum Beispiel, dass du nicht so viel fragst, obwohl du allen Grund dafür hättest.“
Natürlich hatte er die, sogar jede Menge. Zum Beispiel, warum sie ihn nicht hatte das machen lassen, was ein Mann mit einer Frau in einer solchen Situation gewöhnlich tut.
Langsam und mit Bedacht antwortete er: „Ich weiß nichts über deine Vergangenheit. Will ich auch nicht. Ich habe viel zu lange nach hinten geschaut in meinem Leben und es war ein Fehler. Ich will ihn mit dir nicht wiederholen.“
Sie richtete sich ein wenig auf, blickte ihn prüfend an und küsste ihn mit geöffneten Augen. Ein Lichtschein huschte durch das Zimmer, vielleicht die Spiegelung eines Autoscheinwerfers auf der anderen Seite des Sees, und etwas zwischen ihren nackten Brüsten reflektierte das Licht.
„Das ist ein Sternenherz.“
„Ich habe doch nichts gefragt.“ Das Testosteron tobte noch immer durch seine Adern und es machte seine Stimme rau.
„Doch hast du. Ich kann dich hören, auch wenn du nichts sagst. Schon vergessen?“
„Also gibt es doch die sprechende Stille?“
Statt einer Antwort gab sie ihm einen langen Kuss. „Zwischen uns? Vielleicht!“
Leise lachte sie. „Ja, ich erzähle dir ihre Geschichte, du neugieriger Teddybär. Es ist eine uralte Legende.“
Sie kuschelte sich in seinen Arm. „Ich stamme aus dem Volk der Yupik, das vor langer Zeit am Kap Deschnjow siedelte. Es sind Verwandte der Eskimos und bei Ihnen gibt es viele schöne Geschichten. In der vom Sternenherz spielt sogar einer meiner Vorfahren eine Rolle. Er hieß Tikaani, war ein junger Jäger und als er eines Tages auszog, um Wild zu erbeuten, begegnete er in den verschneiten Wäldern einem wunderschönen jungen Mädchen mit roten Haaren, das sich verirrt hatte. Obwohl es bitter kalt war, trug sie nur ein dünnes Kleid und lief barfuß durch den Schnee. Sein Herz entbrannte in tiefer Liebe zu ihr und er nahm sie mit sich. Ihr Name war Ahala und als er in der Nacht in sein Dorf zurückkehrte, erleuchtete ein mächtiges Feuer den Himmel über ihnen, wie es auch die ältesten Dorfbewohner noch nie gesehen hatten.“
„Es wird ein Polarlicht gewesen sein. Vielleicht nach einem besonders heftigen Sonnensturm“, brummte er.
Mit dem Finger tippte sie ihm auf die Nase. „Psst! Es ist doch eine Legende und da gibt es keine Sonnenstürme. Es ist hart dort in der Kälte der Polarregion und die Menschen lebten nur von dem, was die Natur ihnen gab. Mein Ururgroßvater Tikaani liebte meine Ururgroßmutter Ahala über alles, und jedes Mal, wenn er zum Fischen aufs Meer hinausfuhr, dachte er nur an die Heimkehr zu seiner geliebten Frau. Dann kam eine böse kalte Zeit, die Natur war knauserig gewesen mit ihren Gaben und die Menschen und Tiere litten großen Hunger.
In diesem Winter wurde meine Urgroßmutter Mauja geboren und wieder brannte der Himmel über Kap Deschnjow mit der gleichen Heftigkeit wie an dem Tag, als Tikaani Ahala im Wald gefunden hatte. Am nächsten Morgen verboten die Ältesten allen, auf das Meer zum Fischfang hinaus zu fahren. Sie sagten, ein Stern sei vom Himmel auf die Erde gefallen und hätte böse Geister ausgespien, die den Geist der Menschen und der Tiere verwirrten.
Zwei Tage später war Ahala, die schon bei der Geburt ihrer Tochter nur knapp dem Tode entronnen war, so geschwächt, dass sie keine Milch mehr für Mauja hatte. Tikaani war verzweifelt und beschloss, auf Fischfang zu gehen, obwohl er wusste, dass er dafür aus dem Dorf verjagt werden konnte. Er küsste seine Frau zum Abschied und ging über das Eis auf das Meer hinaus, um in einem Eisloch Fische zu fangen. Viele Stunden musste er laufen, bis er eine offene Stelle fand und es wurde später Abend, bis er mit seinem Fang heimkehrte.
Die Ältesten warteten bereits auf ihn, aber nicht um ihn zu bestrafen, weil er das Verbot übertreten hatte, sondern um ihn zu trösten. Ein hungriger Eisbär war in das Dorf eingefallen und hatte Ahala getötet, als sie gerade ihre Notdurft verrichtet hatte.
Tikani wollte ohne seine Frau nicht leben, und da er seine Tochter Mauja bei seinem Volk in Sicherheit wusste, wanderte er wieder auf das gefrorene Meer hinaus. Stunde um Stunde, bis er eine Höhle fand, die aufragende Eisschollen gebildet hatten. Dort ließ er sich nieder, schloß die Augen, um sie nie mehr zu öffnen und zu sterben.
Schritte knirschten im Schnee, dann umschlangen ihn Arme, ein Körper presste sich an ihn, hauchte ihm wieder Leben ein und Ahala fragte: „Warum bist du hier?“
„Ich will ohne dich nicht leben“, antwortete er.
Sie erwiderte: „Dein Leben gehört nicht dir. Es gehört unserer Tochter, und wenn du es wegwirfst, habe ich den falschen Mann geliebt.“
„Aber ohne dich ist die Welt so dunkel“, antwortete er.
„Dann mache ich sie dir wieder hell“, sagte Ahala und hängte ihm eine Kette um den Hals. „Es ist ein Sternenherz. Wenn du dereinst gehen musst, wird es dir den Weg zu mir zeigen. Nach dir wird es unsere Tochter tragen und nach ihr ihre Tochter. Sie alle werden den Menschen wiedersehen, den sie lieben, wenn sie einmal von ihm getrennt werden. Genau, wie auch du mir wiederbegegnen wirst.“
Sie umarmte meinen Ururgroßvater noch einmal fest und ging wieder hinaus ins silberne Mondlicht. Barfuß, nur mit ihrem dünnen Robbenfellkleid, hinein in die tödliche Kälte und verschwand, als wäre sie nie da gewesen. Mein Ururgroßvater schlief ein, und als er am nächsten Morgen erwachte, war das Fieber verschwunden und er ging Hause.“
Christian brummte: „Er hätte entweder erfroren oder total entkräftet sein müssen.“
„Psst. Es ist doch nur eine Legende, du unromantischer Bär. Tikaani wurde ein guter Vater und irgendwann Ältester. Aber einmal in jedem Jahr, an dem gleichen Tag, an dem Ahala gestorben war, wanderte er alleine aufs Meer hinaus, und wenn er am nächsten Morgen zurückkehrte, strahlten seine Augen vor Glück. Er wurde irgendwann zu alt, um noch aufs Meer hinauszugehen und wollte die Kette Mauja schenken, aber sie besaß keinen Verschluss. Nichts und niemand konnte sie von seinem Hals lösen und es war, als sei sie mit ihm verwachsen. Erst als er starb, öffnete sich das Sternenherz von selbst und Mauja konnte es anlegen. Und nach ihr meine Großmutter, meine Mutter und von ihr habe ich die Kette geerbt.“
„Komische Legende. Irgendwie gibt es doch bei sowas immer eine Lehre, die man daraus ziehen kann.“
Wieder erklang Marinas Lachen in der Dunkelheit. „Vielleicht erkennst du sie nur nicht?“
„Hm, vielleicht.“ Aus Christians Ermattung war Müdigkeit geworden, aber seine Neugier meldete sich. „Kann ich sie mal sehen?“
„Natürlich, wenn du sie öffnen kannst?“
„Warum ziehst du sie nicht über deinen Kopf?“
„Das geht doch nicht, Dummerchen. Dafür ist sie zu eng. Öffne sie.“
Grummelnd drehte Christian sich zur Seite und tastete nach dem Lichtschalter. Ein kleiner, vielleicht daumennagelgroßer, elfenbeinfarbener Stein bildete den Anhänger und in ihm pulsierte gleichmäßig ein dunkles rotes Licht. Je länger er hinschaute, umso beruhigender wirkte es, fast, als passe sein Herzschlag sich der Frequenz des Leuchtens an. Die Kette bestand aus filigranen Gliedern, sah alt aus und doch gleichzeitig, als hätte Marina sie gestern erst gekauft.
„Sieht aus wie Silber, aber ich habe noch nie Glieder mit so einer seltsamen Form gesehen.“
Er suchte an Marinas zartem Hals nach einem Verschluss, aber er fand ihn nicht. Glied für Glied bildete eine makellose Reihe ohne jedwede Erhebung oder Unterbrechung.
Stirnrunzelnd blickte er Marina an. „Wo ist der Trick?“
In ihren grünen Augen irrlichterte etwas, das da nicht hingehörte. „Kein Trick. Küß mich, und du wirst verstehen.“