Schnürsenkel
Nach einem regnerischen Tag, der sich sehr gut für das Schreiben und Lesen eignet, eine weitere Geschichte von mir. Viel Spass!---
Verdammtes Mistwetter. Ein morgendlicher Wolkenbruch über Frankfurt und die Neue Mainzer Strasse war bereits der Sintflut nahe, und das ausgerechnet kurz vor Arbeitsbeginn. Ich eilte in das Bürogebäude hinein, mit meinem Regenschirm, dessen Zusammenklappen im Eingangsbereich die Wassertropfen im Umkreis von zwei Metern um mich herum verteilen liess. Den strafende Blick des sich innerhalb des Gefahrenbereichs befindlichen Kollegen erwiderte ich mit dem unschuldigsten Lächeln, welches mein Mimik-Repertoire hergab.
Unschuldig! Wenn er bloss wüsste. Das Bild des Andreaskreuzes drückte sich in meine Gedanken. Estelle, daran gefesselt, war förmlich ausgelaufen vor Lust. Und ich war es auch, aber wegen meines Schweisses, der durch alle Poren gedrungen war. Erschöpft.
Wie lange war das jetzt schon her?
Aber er, mein vom Regenschirm genässter Kollege, geschniegelt und mit gelierter Frisur, war noch jung, vielleicht knapp 30. Ich bezweifelte, dass er hinter die Kulissen sehen konnte. Dafür brauchte es etwas mehr Lebenserfahrung und den Fokus auf das, was das Leben wirklich zu bieten hat.
Das Ziel des 28. Obergeschosses hatte ich brav gewählt, an dieser neumodischen, zentralen Liftsteuerung, welche danach den für mich geeigneten Aufzug zuweisen würde. Irgendwie schade, dachte ich, dass diese Zeiten vorbei sind, wo man sich mit Absicht und mit gutem Grund noch in eine Kabine einzwängen konnte, in welche gerade eine attraktive Kollegin verschwunden war; um ein Lächeln zu erhaschen, ihren Duft zu geniessen, sich in erotische Tagträume entführen zu lassen. Für 20 Sekunden, vielleicht 40. Doch mit dieser neuen Art von Elektronik wurden die Benutzer entmündigt und jeglicher Romantik beraubt. Bestimmt hatte der Programmierer das «Emma-Too-Antisexismus»-Prüfsiegel für genderneutrale und belästigungsverhindernde Lift-Software.
Aufzug C sollte mich in das 28. Obergeschoss bringen. Und siehe da! Ich hatte wieder mal Glück. Eine sehr hübsche Kollegin wurde ebenfalls der gleichen Kabine zugewiesen. Schon oft hatte ich sie beobachtet, häufig war sie in ihrem grauen Kostüm gekleidet, so auch heute wieder; schwarze Nylons und schwarze Schnürpumps ergänzten ihr Business-Outfit. Wobei, diese Schuhe hatte ich noch nie an ihr gesehen, meist war sie mit passenden, grauen Pumps aus Wildleder dort. Vermutlich aber hatte sie das Regenwetter bewogen, heute etwas Robusteres zu wählen. Ihre grossen, hellen Augen waren sehr auffällig, wunderbar passend zu ihren hellbraunen Haaren; doch fast immer hielt sie ihren Kopf von mir abgewandt. Eigentlich vermied sie, so machte es den Eindruck, den Kontakt zu jedem Mann, den sie nicht kannte. Als würde vom Maskulinen eine Bedrohung für sie ausgehen.
Dieser Gedanke liess mich schmunzeln. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass diese wunderbare Gefahr nur von wenigen Männern ausgeht – und einen solchen zu finden, das sei für die meisten Frauen nicht einfach und käme einem Jackpot gleich. Aber was konnte sie schon wissen, dieses unschuldige Wesen.
Unter dem Regime des frei wählbaren Lifts hatte ich jede Gelegenheit genutzt, diese Frau in den Aufzug zu begleiten; häufig waren wir gleichzeitig dort. Jedoch waren wir nie nur zu zweit, in diesem übervölkerten Arbeitsturm, und entsprechend hatte ich es auch nie gewagt, sie anzusprechen. Es hätte, falsch verstanden oder unwillkommen, für mich unangenehm enden können.
Über an verschiedene andere Kollegen verstreut gestellte Fragen hatte ich inzwischen herausgefunden, wer sie war. Eine Controllerin. Jorge, der Kollege von der internen Post, hatte mir mit seinem derben Lachen erzählt, sie heisse zwar Marlène, doch die anderen hier würden sie hinter ihrem Rücken „Marlon“ nennen. Das Gerücht gehe um, sie stehe auf aussergewöhnlichen Sex, «weischt, so wie wenn zwei Mann mitnander haben» lachte er mit seinem südamerikanischen Akzent und hielt sich dabei die Hand vor seinen Mund.
Ich tat seine Bemerkung als einen der typischen Witze der eher einfachen, testosteron-frustrierten Männer ab, ohne jeglichen Wahrheitsgehalt. Doch die Fantasie blieb nicht unberührt, und das Spiel mit ihr in meinem Kopf regte mich an. War alles wirklich nur eine Erfindung gewesen? Rauch, gänzlich ohne Feuer? Die Frau faszinierte mich, und doch fiel mir nichts ein, um prüfen zu können, ob sie für das, was ich so leidenschaftlich gerne tat, mit ihr tun, ihr antun könnte.
Zusammen mit vier weiteren Personen waren wir nun eingepfercht, in der feuchten Wärme des Aufzugs C. Ich musterte sie. Ihr Regenmantel, den sie bereits geöffnet hatte, war etwas kurz geraten, fand ich und blickte hinunter zu ihren Füssen. Regenwasser lief seitlich ihres Schienbeins entlang, ruckelte dann über ihren Fussknöchel, hinab in Richtung Schuh und verschwand in diesem kleinen Spalt zwischen der Innenseite des Leders und ihrem Strumpf. Ob es ihre Fussohle erreichte? Verflixtes Kopfkino! Es begann sofort zu drehen…es tauschte das Regenwasser mit Flüssigkeiten anderer Herkunft, als Ergebnis dessen, was sie gerade eben getrieben hatte. Oder mit sich hatte treiben lassen. Das Andreaskreuz, schon wieder, vor meinem geistigen Auge! Mein Blick verharrte auf dieser Stelle. Doch urplötzlich erkannte ich dort etwas, was, mich mehr als nur verblüffte und meinen Leib innert Millisekunden in helle Aufruhr versetzte: Jeweils am Ende der Schnürsenkel befand sich, als deren Abschluss, ein kleines Stück Metall, auf welchem deutlich sichtbar eine Triskele eingraviert war.
War sie sich der Bedeutung bewusst? Oder war es für sie nur ein Mode-Accessoire, so wie manche chinesischen Zeichen, die niemand versteht?
Marlène musste offenbar bemerkt haben, dass ich, wie zur Salzsäule erstarrt, meine Pupillen auf ihre Füsse gerichtet hielt; denn als ich von meinem kurzen Hormonrausch wieder in die Realität der Kabine zurückgekehrt war, erkannte ich, dass ihre Augen offensichtlich bereits auf mich gewartet hatten: Sie fixierten mich direkt. Kein Lächeln auf ihren Lippen. Aber es war auch kein Blick, der ein unangenehmes Berührtsein offenbart hätte. Eher interpretierte ich eine gewisse Neugier. Eine solche hatte sie mir gegenüber, während den bisherigen Fahrten, in ihrer abweisenden Art, nie gezeigt. Sie machte es mir dadurch leichter, ebenfalls nicht zu lächeln, denn das hätte die Chance, die ich gerade witterte, unweigerlich zerstört. Es erforderte so schon meine volle Konzentration, kostete meine ganze Energie, sie jetzt nicht in die Belanglosigkeit eines alltäglichen Momentes zu entlassen. Ich musste den Augenkontakt halten, so lange, bis das Erreichen ihres Ausstiegspunktes ihn zwangsläufig zerstören würde.
Sie enttäuschte mich nicht – sie hielt mir stand. Hätte auch nur jemand von uns ein Wort gesprochen, es die Magie des Moments wäre sofort vernichtet gewesen. Ob sie es auch so empfand?
Im 25. Stockwerk hielt der Aufzug. Marlène blickte nach vorn, bahnte sich den Weg mit unter murmeln eines kleinlauten «Entschuldigen Sie» den anderen Herren gegenüber hinaus. Der entscheidende Moment war kommen. Jetzt, wo sie draussen war und die Lifttüren sich wohl bald anschickten, zu schliessen. Wenn sie sich nicht nochmals zu mir umdrehen würde, wäre alles umsonst gewesen.
Doch auf dem Vorplatz des Aufzugs begrüsste sie einen Kollegen. Warum in aller Welt heute, jetzt, in diesem Moment? Der Schliessmechanismus hatte sich in Bewegung gesetzt, und ich erwog schon das völlig absurde Szenario, aus dem Lift zu stürzen, um ihre Aufmerksamkeit noch einmal zu erlangen. Jetzt definitiv den Anknüpfungspunkt zu finden, den sie mir in dieser Sekunde verweigerte. Verdammt, Marlène, schrie ich innerlich, laut über meine Nase schnaufend, mit schweissnassen, verkrampften Händen in meinem Mantel.
Dann drehte sie ihren Kopf. Tatsächlich! Sie blickte nochmals zu mir. Sie suchte mich unter den anderen Herren in Anzügen, und sie fand mich. Zwei Sekunden vielleicht, bevor das Metall die Verbindung zwischen uns kappte.
Meine Anspannung war weg. Die Augen fielen zu und blieben es, für die restliche Fahrt in den 28. Ich hatte gewonnen, irgendwie. Wenig später erreichte ich meinen Arbeitplatz und liess mich in den Stuhl sinken, beide Arme aussen an den Armlehnen, Kopf nach hinten geneigt, Blick an die Decke.
Dann aber kam der Sinn für Logik zurück. Auf einmal fühlte sich das Erlebnis wie ein Pyrrhussieg an: Wie um Himmels willen konnte ich mich ihr wirklich nähern, anknüpfen?
Produktivität? Das Wort wäre eine Beleidigung gewesen für den zähflüssigen Arbeitstag, den ich nun hinter mich zu bringen versuchte. Irgendwie konnte ich für die bevorstehenden Kundentermine nicht die erforderliche Konzentration aufbringen. Oder wollte nicht. Meine Gedanken kreisten um sie, um Marlène. War sie die Sub von jemandem? Hatte sie darauf gehofft, dass sie unentdeckt bliebe, die Wahl der Schuhe, die sie bestimmt sonst nur zu Sessions trug, nur heute ausnahmsweise ins Büro? Oder war es eine heimliche Einladung an einen Wissenden, an jemanden wie mich?
Wie konnte meine Taktik aussehen? Ein plumpes E-mail? Eine Chat-Nachricht über den Messenger? Das wäre nicht nur stillos, sondern im schlimmsten Falle gefährlich. Elektronische Spuren, welche sofort auf mich zeigen würden; die vervielfältigt an die falschen Stellen geraten könnten. Meine Karriere: Sie wäre ruiniert, durch ein paar wenige Worte.
Dann, auf einmal, kam es mir die Lösung in den Sinn: Eine schriftliche Nachricht! Aber auch hier durften die Spuren nicht auf mich weisen. Jeder Drucker, so hatte mich ein Forensiker mal aufgeklärt, markiert einen eindeutigen, identifizierenden Code auf dem Papier in einer extrem hellgelben und klitzekleinen Schrift, von normalem Auge nicht zu erkennen. Wer weiss, vielleicht ist auch das Papier schon ohne Drucker codiert? Nein, die Vorsicht gebot es, ein Stück Papier aus einem Brief an mich herauszuschneiden und es mit Tinte zu beschriften. Es war nur ein schmaler Streifen – mehr brauchte ich aber auch nicht. Ich schrieb: «Wir zwei haben mehr gemeinsam, als Du ahnst. Dein Blick und Dein Schuh haben Dich verraten. Triff mich in der Caféteria um 9 Uhr.» Ich unterzeichnete nicht mit meinem Namen, sondern dem Triskele-Symbol. Die Mitteilung musste eindeutig für sie sein – und dennoch bot ich ihr alle Möglichkeiten. Und mir auch.
Ich hatte eine kühne Hoffnung für den perfekten Ort, um ihr diesen Zettel zukommen zu lassen, als ich mich zu später Stunde auf den Weg zu ihrem Desk machte. Zu dieser Uhrzeit war allerhöchstens noch die Raumpflegerin unterwegs, und mit diesem Risiko konnte ich gut leben. Jorge hatte mir den Ort ihres Wirkens verraten. Mein Herz machte einen Freudensprung, denn ich fand dort genau das, was ich für die Umsetzung meines Planes benötigte: Neben ihrem PC standen ihre grauen Wildlederpumps. Ich bückte mich, legte den Zettel in einen davon, richtete mich wieder auf und verliess das Gebäude in Richtung Zuhause. Morgen, ja morgen würde sie meine Nachricht finden. Eine wohlige Wärme durchflutete mich bei dieser Vorstellung, begleitet von leichter Nervosität.
Die Nacht verlief so zäh wie der Arbeitstag. Würde ich wirklich Glück haben und sie erscheinen? Diese Frage rotierte über Stunden und verhinderte zuverlässig meinen Schlaf, für lange Stunden.
Am nächsten Morgen sah ich sie nirgends, als ich zur Arbeit ging. Pünktlich um neun Uhr holte ich mir den Espresso in der Caféteria, wählte einen Tisch an der Fensterfront des Wolkenkratzers und wartete dort. Die Sonne wärmte mich. Oder war es die Aufregung? Fünf Minuten später kam sie. Sie sah mich, würdigte mich aber keines weiteren Blickes, sondern lief schnurstracks zur Kaffeemaschine. Die grauen Pumps, sie hatte sie an. Wie erwartet. Als sie ihr Getränk hatte, steuerte sie auf meinen Tisch zu.
Die Wärme war nicht mehr da. Dafür eine Hitze.
Sie setzte sich gegenüber von mir und rührte wie eine Unbeteiligte die Milch in ihren Kaffee, als wäre alles ein rein zufälliges Setting. Erst, als sie mit dem Resultat zufrieden war, legte sie den Löffel zur Seite und schaute direkt in meine Augen. Ich schwieg und versuchte, meinen galoppierenden Puls zu kontrollieren, jeglichen Anschein von Aufregung zu verheimlichen.
Leise sagte sie: «Es gibt manchmal ganz merkwürdige Dinge, die sich in diesem Hause zutragen.» Dann drehte das rechte Knie nach aussen, bückte sich, um an ihren Schuh zu fassen, und schlüpfte mit der Ferse hinaus. Mein Zettel war noch drin. Sie zog ihn hinaus und legte ihn neben meine Tasse. Noch immer kein Lächeln auf ihrem Gesicht. Was hatte sie vor?
Es war Zeit, Klarheit zu schaffen. «Du hast es richtig erkannt, Marlène. Aber die noch aussergewöhnlicheren Dinge, die passieren ausserhalb!» Jetzt zog sie ihre Mundwinkel nach oben. Das erste Mal lächelte sie mich richtig an. Von meinem Kopf über meinen Bauch bis in die Lende breitete sich das wohlbekannte Kräuseln aus, welches sich am Ende an einer ganz bestimmten Stelle konzentriert. «Wo denn?» fragte sie mit dem naiven Blick, den sie bewusst so spielte, dass ich ihn als Ironie erkennen sollte. «Es ist Dir frei, einen solchen Ort kennenlernen. Wenn Du stark genug bist.» hänselte ich sie. Jetzt lachte sie laut. «Mein lieber Kollege, von welchem ich nicht mal den Namen kenne, weil er nicht mal Mann genug dafür ist, ihn zu nennen: Du solltest Dir gut überlegen, ob Du stark genug bist.»
OK, das übliche Spiel, die übliche Barriere, das sich teuer verkaufen wollen. «Eine Controllerin, die die Kontrolle verliert? Stell Dir vor, auch sowas habe ich bereits erlebt. Mach Dir keine Sorgen darum, sondern eher um Deine Fallhöhe.» bluffte ich.
Marlène blieb für lange Sekunden ruhig und trank ihren Milchkaffee. Abwechselnd fixierte sie mich, dann wieder ihre Tasse. Als diese leer war, fuhr sie mit dem einen Fuss unter dem Tisch an meinem Bein hoch und wieder runter, währenddem sie mich mit ihren Scheinwerfer-Augen fokussierte. Dann legte sie ihre Hand auf meinen Handrücken und sagte: «Ich muss zurück zur Arbeit. Aber Du weisst inzwischen, wo Du Deine Nachrichten hinterlegen kannst. Oder soll ich sagen, unterlegen?» Sie zwinkerte, erhob sich, nahm ihre Tasse und stellte sie für den Abwasch ins Gestell. Unmittelbar bevor sie die Caféteria verliess, schaute sie nochmals zu mir zurück und lächelte, als hätte sie den Sieg davongetragen, nicht ich.
Sie hatte keine Ahnung. Noch nicht.