Der Kettenmann - Teil 1 von 2
Am Ufer des Flusses läuft er entlang. Wieder, wie jedes Jahr zu dieser Zeit, zu später Stunde. Er, eine dunkle Gestalt, mit Hut und einem Umhang, wahrscheinlich ein Regenmantel, aber eigentlich richtig erkennen kann man es nicht. Erscheinen tut er nur im Herbst, wenn der Nebel aus dem noch vom Sommer gewärmten Wasser aufsteigt und seine Silhouette im Lichtspiel der alten Strassenlaterne seltsame Formen annimmt. Melissa ist wieder mal zu Besuch im Haus ihrer inzwischen alt gewordenen Eltern, diesmal sogar ausnahmsweise über Nacht, und sieht ihn von ihrer zum Gästezimmer umfunktionierten Kinderstube aus. Sie weiss um ihn seit sie ein Kind war.Oft hatte sie sich vor ihm gefürchtet, mehr noch als vor einem Geist. Denn im Unterschied zu einem Gespenst ist seine Geräuschkulisse sehr eigenartig. Als würde der Mann (war es wirklich ein Mann?) eine Kette tragen, eine schwere, eiserne, die im Gehen immer wieder an seine Oberschenkel schlägt.
Ihre Eltern hatten immer rasch abgewiegelt, wenn Melissa mal nicht schlafen konnte, weil sie das merkwürdige Klirren zu später Stunde vernahm und sich vor lauter Angst nicht aus dem Bett wagte. Wenn es kein Hirngespinst sei, so trösteten sie ihre Eltern, dann sei es halt jemand aus der nahegelegenen, alten Sägerei. Das Werk war jedoch in der Nacht nie in Betrieb und menschenleer. Doch obwohl sie die Lügen ihrer Eltern durchschaute, klammerte sie sich an ihnen, um einschlafen zu können. Der Kettenmann kam im Herbst auch dann noch, als Melissa schon Teenager war, und die Firma längst eingegangen. Sie hinterfragte schon lange nicht mehr und hatte akzeptiert, dass es diesen Kettenmann einfach gab und sie nie eine vernünftige Erklärung für ihn bekommen würde. Doch das Geräusch der Ketten koinzidierte häufig mit dem heimlichen Masturbieren zu später Stunde, wurde akustischer Bestandteil davon. Mehr noch: Es hatte sogar einen unerwarteten Effekt auf sie. Sie verspürte ein Gruseln, so wohlig, dass es auf seltsame Weise erotisierend wirkte.
Ihre Gedanken drehen in ihrem Kopf. Soll sie jetzt endlich, nach so langer Zeit, hinausgehen, um das alte Geheimnis zu lüften? Sie ist nicht sicher, will situativ entscheiden, sich langsam herantasten. Eigentlich lächerlich, sagt sie sich, vor so etwas Angst zu haben. Nie hat sie von einem Verbrechen gehört, hier in diesem ländlichen, eher spärlich bewohnten Aussenbezirk. Nur ab und zu, so erinnert sie sich, waren von weitem her dumpfe Schreie zu vernehmen- Doch diese Geräusche tat sie entweder als Tierlaute oder irgendwelchen Ehestreit ab. Also, so schliesst sie ihre Überlegungen, kann es sich bei diesem Phänomen auch nicht um etwas Gefährliches handeln.
Sie verlässt das Haus, in dem die Eltern, die durch die Gnade des altersbedingt abnehmenden Hörvermögens ohnehin kaum je durch etwas aufgeschreckt werden, bereits tief schlafen.
Melissa legt den direktesten Weg zum Ufer, der über eine feuchte Wiese führt, trotzdem fast schleichend zurück. Der Duft des modernden Holzes an der Böschung und ein kalter Luftzug erzeugen eine Stimmung wie auf einem verlassenen Friedhof. Es fröstelt sie.
Kurz bleibt sie stehen, um zu lauschen. Tatsächlich, der Kettenmann ist noch immer in Hörweite. Sie kann sogar seine Umrisse von weitem erkennen, vielleicht 30 Meter vor ihr, auf dem Uferweg. Was zum Teufel, so denkt sie sich, tue ich hier eigentlich?
Leise murmelnd spricht sie sich Mut zu. Sie will Klarheit – 30 Jahre der Furcht sind genug. Beherzt nimmt sie die nächsten Schritte in Angriff, um dem Kettenmann zu folgen, unter der Brücke hindurch. Dahinter wird es dunkel. Ihre Augen sind noch etwas geblendet von der Helligkeit der Strassenlaterne, und so verliert sie seine Spur.
Wo ist er bloss hin?
Sie verlangsamt ihren Schritt, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen und sie vielleicht seine Spur wieder aufnehmen kann. Als die Konturen des Weges vor ihr wieder erkennbar werden, läuft sie weiter, weiter dem Fluss entlang. Ihr Ziel ist die Sägerei, die etwas verfallenen Gebäude, obwohl sie sich der Absurdität, den Mann dort zu suchen, bewusst ist. Aber trotzdem will sie nicht aufgeben. Nur wenige Minuten später steht sie am lottrigen Zaun des stillgelegten Betriebs, an welchem ein rostiges Schild noch immer eindrücklich warnt: «Unerlaubtes Betreten des Grundstücks streng verboten!»
Melissa zwängt sich durch einen Loch im Zaun und tritt auf das Gelände. Der Umriss der Gebäude ist gut erkennbar, trotz des spärlichen Streulichts in dieser sternklaren Nacht. Sie spürt ein Schauern in ihr aufkommen, welche sie auf die gleiche, unerklärliche Weise erregt wie das Kettengeräusch in ihrer Jugend. Fast schämt sie sich dafür, doch zum Glück ist niemand hier, der Zeugnis darüber ablegen könnte.
«Guten Abend, Melissa! Ich habe dich erwartet», tönt eine Bass-Stimme in ihrem Rücken. Starr vor Schreck bleibt sie stehen. Nicht einmal ihren Kopf mag sie bewegen, so sehr ist sie gefangen in ihrer Furcht. «Du brauchst dich nicht umzudrehen, du weisst um mich, seit du ein Kind bist. Deine Eltern kenne ich gut. Sie waren oft an meinen Herbstveranstaltungen.» Langsam findet sie die Kraft, hinter sich zu schauen. Es ist keine Überraschung – es ist tatsächlich der Kettenmann, der zu ihr spricht. Ein Hüne im Alter seiner Eltern, wenn nicht noch älter. Seltsamer Hut, ein Mantel, knorrige Hände, furchendurchzogenes Gesicht, soweit das in der Dunkelheit erkennbar ist. Ein Schmiss auf seiner linken Wange, mutmasslich von einer Keilerei, krönt die schauerliche Erscheinung.
Melissa zittert und versucht verzweifelt, sich aus dem eben Gesagten und ihren Kindheitserinnerungen einen Sinn zusammen zu zimmern, doch irgendwie will es ihr nicht gelingen. Sie nimmt ihren gesamten Mut zusammen und fragt: «Was sind das für Veranstaltungen, von denen du sprichst, Kettenmann? Darf ich dich überhaupt so nennen?» Er lacht. «So nennen mich alle hier im Dorf. Meine Kette ist die Aufforderung, zu erscheinen, hier, in der alten Sägerei. Du bist ihm gefolgt, wie die anderen, die sich schon eingefunden haben. Du weisst wohl noch nicht, welches Geheimnis in dieser Gemeinschaft schlummert. Niemand hat dich aufgeklärt, nicht mal, als du volljährig geworden bist. Keiner dieser Feiglinge.» Der Kettenmann spuckt verächtlich auf den Boden. «Es gibt einen Grund, warum die Leute alle hier in dieser Ortschaft wohnen. Niemand ist zufällig hier. Es ist an der Zeit, dass du diesen Grund erfährst, und ich bin gewillt, ihn dir zu zeigen. Komm mit!»
In Melissas Kopf wirbelt es wie in einem Herbststurm. Ihr Herzklopfen, so fürchtet sie, kann man bestimmt aus vielen Metern Distanz noch hören. Kalter Schweiss bricht in Wellen durch die Poren ihrer Haut. Mit jedem Satz, den der Kettenmann von sich gibt, fühlt sie sich verwirrter. Sie zwickt sich in ihren Oberarm, um sicher zu gehen, dass sie das alles nicht träumt, wobei sie sich nicht einmal entscheiden könnte, ob es wirklich ein Albtraum ist: sie fühlt sich vom Kettenmann, so dämonenhaft er auch aussehen mag, irgendwie magnetisch angezogen. Als wäre sie in einem Horrorfilm, dessen Ende sie nicht verpassen will.
Der alte Mann geht voran, Melissa folgt ihm, hinein in das alte Gebäude, aus dem nur ein sehr fahles Licht schimmert. Die Wasserzufuhr aus dem Fluss für den Antrieb der Gerätschaften ist schon längst trockengelegt, die Inneneinrichtung mit den grossen Sägeblättern mit einer dicken Staubschicht überdeckt. Alles sieht aus in einem Dornröschenschlaf, jedoch ohne Hoffnung auf ein Erwachen.
Der Weg führt zwischen den Gerätschaften der grossen Halle hindurch und an am Ende hinein in das Verwaltungsgebäude. Vor der Treppe in das obere Stockwerk bleibt der Kettenmann stehen und schaut Melissa eindringlich an. Er hat helle Augen wie ein Husky, bemerkt sie. «Bist du bereit?» Melissa nickt, weniger aus Überzeugung denn aus Neugier und der Einsicht, jetzt nicht mehr fliehen zu können. Sie folgt der Handbewegung des alten Mannes, hinauf an den Ort, von wo Lounge-Musik erklingt.
Als sie deren Quelle, das Dachgeschoss, erreicht, erwartet sie dort eine kleine Bar. Ein Tresen, mittig, direkt unter dem Giebel des Daches, vor ihm gemütliche Sessel und Tischchen; einige davon besetzt mit Leuten, die sie als solche aus der Nachbarschaft erkennt und die sie mit einem «na-also, du auch»-Blick empfangen. Wie viele sind es? Zehn? Fünfzehn?
Ein Teil der Frauen ist in Strassenbekleidung dort, andere hingegen in ausgesprochen erotischem Outfit. Lederkorsagen, Spitzen-BHs, Unterbrust-Korsagen, teilweise sind die Brüste vollständig nackt. Männer im Anzug oder in Lederkluft. Und dann der Mann hinter der Theke, der grade Gläser mit einem Handtuch trocknet und dabei intensiv mit einem Gast diskutiert. Sie erkennt ihn sofort: Ihre Jugendliebe, bevor sie mit 19 wegzog. Jason.
Melissa ist sprachlos und muss sich einen Moment am Geländer festhalten. Ihr Auftritt hier ist ihr unangenehm, insbesondere die Aufmerksamkeit, die sie auf sich zieht. Eine barbusige Frau erhebt sich, nähert sich ihr und fasst sie an ihrer Hand. «Melissa, so schön, dich zu sehen, nach so langer Zeit. Komm, ich führe dich in den Nebenraum, wo du dich angemessen kleiden kannst.» Jetzt erst erkennt sie, wer diese Frau ist: Jolanda, die einstmals burschikose Tochter des Dorfmetzgers, von welcher alle immer behaupteten, sie stehe nur auf Frauen. Jetzt aber, so aufgemacht, nur mit Lederrock und hohen Stiefeln wirkt sie auf Melissa eher wie ein männerfressendes Vamp. «Ich helfe dir!», flüstert sie in Melissas Ohr und zerrt sie in einen Nebenraum, eine Art Garderobe mit etwa 25 Spinden. Melissa beginnt langsam zu verstehen. Hinter der Bar muss weitaus mehr sein als Luft – die Leute sind definitiv nicht nur zum Plaudern hier. Da die Musik nur gedämpft in den Nebenraum fliesst, vernimmt sie auf einmal auch Stöhnen und Schreie aus dem hinteren Bereich.
Noch ehe sie irgendetwas sagen kann, umarmt Jolanda Melissa und drückt ihr einen Kuss auf den Mund. «Du bist so hübsch geworden, weisst du das?» Melissa weiss gar nicht, wie ihr geschieht. Sie wurde, ohne zu fragen, von einer Frau einfach so geküsst! Und das von Jolanda, der Aussenseiterin von damals, die zwar gut in der Schule war, aber unter den Mädchen des Dorfes verhasst.
Auch wenn es ihr irgendwie gefällt, erwähnt Melissa zur Sicherheit: «Ich bin nicht so… wie du, falls du das denkst.» Aber Jolanda lacht nur. «Keine Bange! Das gehört zum guten Umgang hier. Regel des Hauses!»
Melissa atmet aus und sucht nach Formulierungen für die richtigen Fragen, stammelt aber am Ende nur: «Was… was spielt sich hier eigentlich ab?»
«Dieses Dorf, unser Dorf… es war schon immer Treffpunkt derjenigen Leute, die eine aussergewöhnliche Erotik pflegen. Schon zu Zeiten unserer Eltern», erklärt Jolanda mit einem feurigen Gesichtsausdruck. «Der Kettenmann hat das alles hier gegründet. Das Dorf war lange Zeit fast wie ausgestorben, als er die alte Sägerei übernahm. Doch das war nur eine Tarnung. Er errichtete den Club hier oben und installierte ihn als sicheren Ort für die etwas andersartigen Leute… wenn du weisst, was ich meine. Über die Jahre zogen immer mehr Leute hierher, alle mit dem Wunsch, hier, unter Gleichgesinnten, ausleben zu können, was sie in ihrem Herzen trugen – abseits der Gefahr gesellschaftlicher Ächtung in anderen Dörfer oder Städten. Auch meine Eltern. Und deine, Melissa.»
Melissa fühlt einen leichten Schwindel, doch das freundliche Gesicht von Jolanda gibt ihr neuen Mut. «So genau wollte ich eigentlich nicht wissen, was meine Eltern getrieben haben. Ich glaube, niemand will das. Aber nun gut. Was geschieht nun?» Jolanda öffnet ihren Spind und zeigt ihr die Sammlung von erotischen Kleidern und Schuhen. «Mit etwas Glück passt dir davon was – im schlimmsten Fall gehen einfach ein paar halterlose Strümpfe», sagt sie mit frechem Blick. Zuerst widerwillig, dann aber mit zunehmendem Interesse mustert Melissa die Garderobe und probiert Teile davon an. Sie hat Glück; ein Minirock, ein Oberteil, Strümpfe und sogar ein paar Pumps passen. «Den Slip musst du leider weglassen, Regel des Hauses», flüstert ihr Jolanda mit einem Zwinkern zu. Einen Moment lang ist Melissa nicht sicher, ob das ein weiterer Annäherungsversuch von Jolanda ist, oder tatsächlich eine Regel. Wie auch immer, sie fügt sich und legt den Slip zur Seite.
Zufrieden, aber mit einem Puls, der ihre Halsschlagader zu sprengen droht, betrachtet sie sich im Spiegel, mit Jolanda hinter ihr, breit grinsend. Daraufhin nimmt Jolanda sie erneut an der Hand und führt sie durch die Türe, die in den grossen Raum hinter der Bar führt.
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Teil 2 folgt morgen Samstag