Grenzüberschreitend
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Etwas unbeholfen und - entgegen seinem sonstigen Naturell - schüchtern stakste der Rabe in den Laden der Möwe. Die weißbefiederte Dame mit den silberfarbenen Flügeln betrachtete ihn mit ihren hellen Augen aufmerksam und begrüßte ihn freundlich.
Zwei Wesen derselben Gattung und doch durch und durch unterschiedlich.
Der Rabe hob seine Flügel mit einem leichten Rütteln an, um die Federn etwas in Ordnung zu bringen. Es gelang ihm jedoch nicht, die Eleganz der klaren Linien und scharfen Konturen, die die Möwe auszeichneten, zu erreichen.
„Was ist dein Begehr?", fragte sie mit schräggelegten Kopf. Der rote Fleck an ihrem gelben Schnabel leuchtete dabei verlockend. Ob sie das wusste?
Der Rabe murmelte unverständlich vor sich hin.
„Du suchst bestimmt nach einem schönen Nest für deine Familie", nahm die Möwe an. Sie sprach bewusst langsam. Der Dialekt der schwarzbefiederten Waldbewohner war ihrem eigenen nicht unähnlich. Es sollte sogar Raben geben, die die Sprache der Küstenvögel beherrschten.
Er nickte mit dem Kopf, ohne den schwarzglänzenden Schnabel dabei zu wild zu bewegen, um nicht bedrohlich zu wirken.
Stockend berichtete er von seinem derzeitigen Nest, das man kaum mehr als Nest bezeichnen konnte. „Die Kinderr, weißt du?" Die Möwe nickte verständnisvoll, was ihn ermutigte, weiterzuerzählen. „Irre Flugübunge müsse sein, sie solle nikt abstürrze. Aberr die kleine Rrackerr schmeiße alles durrkeinanderr oder sogarr rrunter, dass man immerr und immerr wiederr neue Zweige rranschleppe muss. Irrgendwann lässt sik auch beste Nest nikt merr ausbesserrn."
„Dann muss ein neues her", schlussfolgerte die Dame klug.
„Genau", bestätigte der kohlschwarze Gesell.
„Es soll so grroß sein." Er breitete seine Flügel beinahe zur Gänze aus.
Die hellgelben Augen der Möwe wurden kugelrund. „So groß?" Wenn sie nicht so kontrolliert wäre, würde ihr der Schnabel offenstehen. Die Nester ihres Volkes waren eher bescheiden.
Der Rabe nickte wiederum. „Ik hoffe, das ist nikt zu teuerr." Er legte zweifelnd die Schwingen an, als versuche er, sich kleiner zu machen.
Die Dame überlegte. „So groß und nicht teuer? Das hält auch wieder nur eine Saison. Aber ich zeige es dir einfach mal."
Sie führte ihn zu einem flachen, aber dafür ausgedehnten Nest, was sie selbst für sich nur als Basis für ein Nest bezeichnen würde.
„Oooh!", machte der Rabe enttäuscht. Trotzdem hüpfte er hinauf und inspizierte die Unterlage, ob sie seinen Anforderungen genügen würde. „Da muss ik aberr noch viel Zweige sammel, bis das ein ektes Zuhaus fürr meine Frrau und zukünftige Kinderr ist." Er wirkte traurig.
„Vielleicht sollten wir einmal eruieren, wie viel du bezahlen kannst. Bisher habe ich für jeden Kunden eine annehmbare Lösung gefunden."
Der schwarze Genosse schluckte. Er hatte in seinem abenteuerreichen Leben viele Schätze angesammelt, die auch nach dem Überfall durch zwei Elsternpärchen nicht zu verachten waren. Aber was im Wald viel galt, tat es in einem so vornehmen Laden noch lange nicht.
Zögernd zählte er auf: „Ein silberr glänzende Kette kann ik biete, zwei Spiegelstück, ein Rring, eine Walnuss - die kann ik fürr dik knacke!"
Die Möwe lachte glucksend. Gegen Nüsse war sie allergisch, aber Spiegel waren eine gute Währung.
„Mir ist da gerade etwas eingefallen. Komm mit." Sie schritt zielstrebig durch den Laden und blieb vor einem hochaufgebauten, weich scheinenden Nest stehen. „Sieh dir das an. Gefällt es dir?"
Diesmal bekam der Rabe große Augen. „Das ist wunderrschön, bequem und stabil. Aber das ist sikerr unbezahlbarr." Vorsichtig beschnäbelte er das Gebilde.
„Setz dich doch einfach mal hinein, ob es für dich passt."
Der Rabe schluckte trocken. Mithilfe leichter Flügelschläge erkletterte er das Nest und ließ sich probehalber in dessen Mitte nieder. Auf dieser Unterlage würde es für seine Frau und ihn ein Genuss werden, die Eier auszubrüten. Ein glücklicher Glanz strahlte aus seinen Augen und verträumt betrachtete er das Kaufobjekt. Dann erinnerte er sich jedoch daran, dass es eben genau das - ein Kaufobjekt - war und seinen Preis hatte.
Die Möwe bemerkte den Wandel in seiner Miene. „Sorg dich nicht", beruhigte sie ihn. „Dieses Modell wird durch ein moderneres ersetzt und ist deshalb zum Sonderpreis erhältlich."
Aufmerksam sahen sie die dunklen Augen an. „Du kannst es gegen die beiden Spiegel eintauschen."
Die Spiegel? Eigentlich waren das seine Lieblingsschätze. Seine Frau und er spielten gern damit. Aber er würde neue finden und ihr schenken; als Preis für ein Nest dieser Qualität waren sie durchaus angemessen. „Serr gut! Das ist gute Geschäft."
„Wenn du es geliefert bekommen möchtest, kostet das den silbernen Ring. Oder hast du Freunde, die dir helfen?" Sie wusste, dass die schwarzbefiederten Waldbewohner stets zusammenhielten und keinen der ihren im Stich ließen. Etwas, was ihrem Volk fehlte.
„O ja! Frreunde und Verrwandte. Kein Prroblem."
Erschrocken bemerkten die beiden, dass es draußen plötzlich dunkel geworden war. Ein unheimliches Donnern erklang, Blitze zerfurchten die quellenden Wolken. Der aufrischende Wind jagte eine Plastiktüte durch die leere Straße. Im nächsten Moment schien der Himmel auf die Erde zu fallen, denn der dichte Regen ließ keine Unterscheidung mehr zu.
Die Möwe war instinktiv zu dem Raben ins Nest geflattert. Auch wenn diese Urgewalten draußen tobten - man konnte nie wissen.
Der Rabe rückte ein wenig zur Seite, um ihr Platz zu machen.
„Weißt du…", begann die elegante Dame zögernd. Der schwarze Gesell legte den Kopf schief und sah sie erwartungsvoll an. Die Möwe überlegte kurz und fuhr dann fort. „Meine Großmutter wurde von einem großen Sturm in den Wald getrieben und verletzte sich an den Bäumen. Sie wäre jämmerlich zu Grunde gegangen, wenn ihr nicht ein Rabe geholfen hätte."
„Das klingt wie Märrke."
Die Möwe lachte kurz auf. „Wenn es ein Märchen wäre, wären sie miteinander glücklich geworden. Meine Großmutter vertrug aber die Kost im Wald nicht, und die Verwandten und Freunde des Helfers hackten stets auf ihr herum. Der Wind und die grenzenlose Weite über dem Meer fehlten ihr. Der Rabe begleitete sie schließlich zur Küste. Aber auch er wurde nicht glücklich. Ihre Artgenossen jagten ihn und die Fische wollten ihm auch nicht recht schmecken."
„Das ist trraurrig."
„Nun, manche Grenzen kann man nicht überwinden, bei aller Liebe. Die beiden trennten sich und trugen ihre grenzüberschreitende Liebe im Herzen und an ihre Nachkommen weiter."
Der Rabe starrte vor sich hin. Vorurteile waren ein gefährliches Gift. Die Geschichte gefiel ihm jedoch, und er würde sie seinen Kindern erzählen.
„Danke fürr dein Vertrraue", sagte er. „Ob Märrke oderr nikt - Liebe ist serr starrk, aberr mankmal ist sie maktlos."
Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, die Wolken und der Wind sich zurückgezogen. Der Himmel zeigte wieder ein helles Blau, die Sonne spiegelte sich in Millionen Wassertröpfchen. Im aufsteigenden Dampf bildete sich ein Regenbogen.
Der Rabe flog davon, um die Spiegel und die Helfer zu holen. Bald schon würden braungesprenkelte Eier in dem komfortablen Nest liegen, wenn es erstmal auf der ausladenden Eiche thronte.
Der Möwe war es überhaupt nicht peinlich, das Nest mit einem Raben geteilt zu haben. Sie schmunzelte - so verkauft man Träume!
Copyright by Regina_clara Mai 2023
(Die Romanze der Möwengroßmutter ist aus einem Kindermärchen, das ich nicht vergessen kann. Den Autor kann ich leider nicht nennen.)