Beeinflusst eure Achtsamkeitspraxis eure erotische 'Praxis'?
Aus konkretem eigenen Anlass möchte ich unsere erotische 'Praxis' gerne einmal auf dem Hintergrund unserer Achtsamkeitspraxis beleuchten: ob und (wenn ja) wie sich unsere jeweilige Praxis der Achtsamkeit auf unser erotisches (Er-)Leben auswirkt.Hintergrund ist bei mir, dass ich seit zehn Jahren in fester Partnerschaft lebe und seit etwa einem Jahr mit meiner Partnerin darüber im Gespräch bin, dass ich mir mehr erotische und sexuelle Freiheit wünsche. Das wäre kein Problem, wenn es bei ihr genauso wäre, sie kann sich eine Öffnung aber eigentlich überhaupt nicht vorstellen. Dadurch ist unsere Auseinandersetzung mit Ängsten, Unsicherheit und teilweise auch mit moralischen Bewertungen verbunden.
Ich bin mir selbst über den Ursprung meiner Bedürfnisse nicht wirklich im Klaren. Hatte schon Hormonschwankungen im Rahmen einer Midlife-Crisis oder auch simple männliche Triebgesteuertheit in Erwägung gezogen. Aber meine Bedürfnisse werden durch Nachdenken nicht geringer; ich fürchte, ich werde (wenn auch behutsam) reale Erfahrungen machen müssen, um für mich weiter zu kommen - und dann frage ich mich aber auch schon wieder, ob ich das nun unbedingt brauche ... so weit so unklar.
Bei diesem Hin und Her ist bei mir die Frage aufgetaucht, ob mein Wunsch nach Beziehungsöffnung nicht mit meiner Meditationspraxis zusammenhängt oder sich indirekt sogar aus ihr heraus entwickelt hat.
Seit fast zwanzig Jahren sitze ich nahezu täglich eine halbe Stunde auf meinem Kissen und übe mich darin, alles was hoch kommen will, auftauchen und vorbei ziehen zu lassen. Ohne Bewertung, ohne Präferenz, ohne Abwehr. Ich finde den Gedanken nicht abwegig, dass diese Praxis maßgeblich dazu beigetragen hat, dass ich auch meine sexuellen und erotischen Bedürfnisse wertfreier wahrnehmen und zulassen kann und sie weniger verdränge.
Und diese Bedürfnisse widersprechen auch keineswegs meinen ethischen Prinzipien, im Gegenteil. Wirkliche Liebe bedeutet für mich uneingeschränktes Annehmen der anderen Person, einschließlich erotischer Gefühle für andere oder sonstiger vermeintlich unzulässiger Bedürfnisse. Wie weit man diese dann auch ausleben kann oder will, erst mal dahin gestellt. Ich finde es für mich wichtig und hilfreich, diese überhaupt erst einmal wahrzunehmen und mich darüber auszutauschen. Insofern betrachte ich diese Entwicklung bei mir als eine - durchaus positive - persönliche Weiterentwicklung.
Aber Veränderungen bringen auch Irritationen mit sich - insbesondere wenn dadurch bisherige Wertvorstellungen (von mir und meiner Partnerin) in Frage gestellt werden. Tatsächlich bin ich seit einem Jahr hinsichtlich meiner diesbezüglichen Einstellungen, emotional wie gedanklich, ständig am Hin- und Herschwanken.
Einerseits empfinde ich es so, dass Liebe und Emotionen frei, unberechenbar und subversiv sind und auch nur so lebendig bleiben. Und ich spüre schon seit längerem ein großes Bedürfnis nach stärkerer Lebensintensität und auch nach neuen erotischen Erfahrungen. Auf der anderen Seite kann ich nachvollziehen, dass meine Partnerin durch meinen Wunsch, unsere Beziehung zu öffnen, irritiert und verunsichert ist. Sie empfindet meine Entwicklung eher als beunruhigend und meinen Wunsch nach einer Beziehungsöffnung eher als 'unnormal' bzw. als eine Zumutung, die ihre eigene Toleranzfähigkeit überfordern könnte.
Deswegen meine Anfrage gerade an euch, liebe Mitübende, die ihr euch auch in der Praxis des wertungsfreien Zulassens schult: wie ist es bei euch? Hat eure jeweilige Praxis direkten praktischen Einfluss auf euer erotisches (Er-)Leben? Hat sich eure persönliche Einstellung und Haltung zum Thema Sex, Beziehung, Liebe im Laufe der Zeit verändert und hatte eure Praxis vielleicht mit diesen Veränderungen zu tun?
Seid ihr eher behutsamer und 'rücksichtsvoller' geworden gegenüber eventuellen Partnern, liegt euch vielleicht auch die Verwirklichung bestimmter ethischer Prinzipien bei euren erotischen Kontakten am Herzen - oder seid ihr im Lauf der Zeit eher mutiger, forscher und offensiver in der Verwirklichung euer Bedürfnisse geworden?
Oder gehen beide Tendenzen (Selbstverwirklichung und Rücksichtnahme) bei euch auch gut zusammen ... ?
Dabei erhoffe ich mir auf keinen Fall 'Rezepte', sondern möchte einfach mal hören, wie ihr euch selbst diesbezüglich erlebt und ob ihr eure eigene Haltung mit eurer jeweiligen Achtsamkeitspraxis in Verbindung bringt?
Ich hoffe, das Thema ist nicht zu umfassend und bin schon ganz gespannt auf eure Beiträge ...
breezel