Wenn eine Person, die mir wichtig war, mir Charaktereigenschaften unterstellte, die ich beim besten Willen nicht an mir selbst entdecken konnte, dann konnte ich das auch nicht einfach so abhaken. Dann wollte ich wissen, wie es dazu kam. Die meisten Menschen nannten mir konkrete Beispiele und die Sache war rasch vom Tisch.
Wenn mir die Person jedoch keine konkreten Beispiele nennen konnte oder wollte, spielte ich im Geiste verschiedene Möglichkeiten durch. Und oft kreierte ich im weiteren Verlauf eine Situation, die zur offenen Auseinandersetzung führte. - Um zu erfahren, woran ich bei dieser Person wirklich bin.
Ich nehme mal ein konkretes Beispiel: Eine "gute Freundin" schrieb mir die Charaktereigenschaft "Leichtsinnigkeit" zu.
Nun gehöre ich aber nicht zu den impulsiven Menschen. Selbst bei spontanen Aktionen habe ich im Vorfeld diverse Eventualitäten durchdacht und noch einen Plan B und einen Plan C in der Tasche. Stehen mir Plan B oder Plan C zur Zeit nicht zur Verfügung, verzichte ich lieber auf die spontane Aktion. Und ja, ich gehe auch Risiken ein. Aber das sind dann auch Risiken, die ich in Kauf nehmen kann. Selten schlug mein Chancen-Risiko-Management fehl.
Unter Leichtsinnigkeit verstehe ich, dass sich ein Mensch auf Risiken einlässt, mit denen er schlecht leben kann. Getreu dem Motto: "Wird schon irgendwie gut gehen."
Eine Möglichkeit wäre also, dass die Person, die mir Leichtsinnigkeit unterstellte, andere Prioritäten verfolgt als ich. Und Risiken, die ich getrost in Kauf nehmen kann (nicht so wichtig) für diese Person nie und nimmer in Frage kämen (ein Fall, der keinesfalls eintreten darf).
Also während ich mich trotz kleiner Abstriche über meinen Gesamterfolg freute, betrachtete mich die andere Person als Versagerin, die bloß irgendwie versuche, das Gesicht zu wahren. Und mir zu unterstellen, dass ich leichtsinnig gehandelt und einfach nicht an die Dinge gedacht hätte, die ihr so wichtig waren, war für sie noch das geringste Übel. Dass ich da anders ticke und Risiko XY mutwillig in Kauf genommen habe, wäre für sie schlimmer gewesen. Dann hätte sie mich nicht mehr gemocht.
(Davon wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nichts. Doch ich zog diese Möglichkeit in Erwägung.)
Unternehme ich etwas unabhängig von einer Person, ist für mich irrelevant, welche Abweichungen in der Wertehierarchie die andere Person hat.
Aber bei gemeinsamen Unternehmungen ist das anders. Da will ich doch, dass es für beide toll wird.
Was weiß ich über diese Person?
Hat sie mir in der Vergangenheit etwas verschwiegen?
Hatte sie in Bezug auf mich ungute Gefühle, wollte aber gut Wetter machen?
Und will ich, dass eine vermeintlich gute Freundin mir Schwächen unterstellt, um mich nicht so zu sehen, wie ich wirklich bin?
Ich kreierte eine Situation, in der sie unsere unterschiedlichen Wertehierarchien nicht mehr ausblenden konnte. Eine Planung für eine gemeinsame Gruppenaktivität, bei der ich sie in meine Überlegungen zum Chancen-Risiko-Management mit einbezog. Und siehe da: Sie sagte mir nicht ins Gesicht, wie unmöglich sie so manche Überlegung fand. Selbst Angebote, es anders zu handhaben - Berücksichtigung der bei ihr vermuteten Prioritäten - schlug sie aus. Stattdessen kotzte sich sich über mich im Freundeskreis aus. Mit so einigen meiner Vermutungen hatte ich goldrichtig gelegen. - Leider.
Deswegen hatte ich "gute Freundin" in Anführungszeichen gesetzt.
Ich kann auch dauerhafte Freundschaften mit Menschen führen, die einige Abweichungen in ihrer Wertehierarchie haben. Dann aber muss das offen kommuniziert werden, damit man aufeinander Rücksicht nehmen kann. Meine Freunde reagierten in so einer Situation anders. Wir setzten uns mit unseren Unterschieden auseinander und fanden einen guten Kompromiss.
Das war bei ihr aber nicht der Fall.
Sie lächelte mir ins Gesicht, log mich an und trug unseren Konflikt in den Freundeskreis.
Klar hätte ich anstelle dieses Testszenarios zu kreieren auch einfach ein wenig mehr auf der Hut sein können. Dann hätten wir auch noch ein/ zwei Jahre so eine Art Freundschaft leben können. Und wir hätten einige Zeit viel Spaß miteinander haben können. Vor allem, wenn wir viel gemeinsam konsumiert anstatt selbst gemacht hätten (=weniger Konfliktpotential). Doch früher oder später hätte sie sowieso das Interesse an mir verloren. - So wahnsinnig viel hatte ich also nicht zu gewinnen.
Wäre es vorher hart auf hart gekommen, wäre sie wohl eine der ersten gewesen, die sich von mir distanziert hätte. Oder schlimmer: Sie hätte mir ein Messer in den Rücken gestochen. Und mit dem Wissen, welches sie bis dahin über mich hätte ansammeln können...
Nein danke. Da beende ich die "gute Freundschaft" lieber sofort und nutze die freigewordene Zeit, um Freunde zu finden, die mich so sehen wollen, wie ich bin und offen mit mir kommunizieren.
In diesem Beispiel gings um die Unterstellung von "Leichtsinnigkeit".
Doch Menschen können auch mittels Zuschreibung vieler anderer Charaktereigenschaften vorhandene Unstimmigkeiten wegerklären und sich einreden, der/ die Freundin würde doch genauso ticken wie man selbst. Bis eines Tages das böse Erwachen kommt. Im besten Fall steht man plötzlich alleine dar. Und im schlimmsten Fall hat man ein Messer im Rücken stecken. Dieses Risiko mag ich beim Aufbau von Freundschaften jedoch nicht eingehen.
Deswegen lassen mir Unterstellungen von völlig unpassenden Charaktereigenschaften auch keine Ruh.
Wahlweise will ich in Erfahrung bringen, mit wem ich es wirklich zu tun habe.
Oder ich will es gar nicht so genau wissen und gehe direkt auf Distanz.