Ich bin Mann und ich bin tätowiert. Ich hab oberhalb der Hand- und Fußgelenke jeweils ein umlaufendes Bild, Allegorien zu für mich wichtige Aspekte. Es hat lange gedauert, bis ich die richtigen Motive bzw. Vorlagen gefunden hatte, zudem die richtige Tätowiererin. Zuerst war sie skeptisch, technisch wohl nicht ganz trivial. Aber sie hat meine Vorlagen angenommen, hat sie so für sich interpretiert bzw. übersetzt, dass sie auf meinen Körper übertragbar waren. Es hat dann insgesamt ca. 8 Stunden gebraucht in 4 Sitzungen a 2 Stunden, 2 x das Lineout und 2 x die Farben.
Vorher hatten wir noch zwei Gespräche, einmal hab ich ihr die Vorlagen übergeben und dann hat sie mir ihre Entwürfe gezeigt. Dabei haben wir dann auch intensiv darüber geredet, was die Symbolik für mich bedeutet, wo die Vorlagen herstammen, warum welches Motiv an welche Körperstelle soll. Schon in der ersten Sitzung hat sich dann erstaunliches herausgestellt. Sie hatte verstanden, um was es mir geht, und einmal angefangen, hatte sie selbst grosse Freude, und ich wage zu behaupten, sie hat sich selbst mit der symbolischen Bedeutung identifizieren können, gerade auch beim Akt der Übertragung auf meinen Körper und ihrem Anteil daran und dabei. Bei mir, und jetzt wird das Thema Schmerz relevant, hat sich sehr schnell eine Art meditative innere Ruhe eingestellt. Ich hatte mich innerlich auf das Stechen eingestellt. Es gibt einen Film mit Patrick Swayze, da ist er so ne Art Türsteher, muss sich nach einer Auseinandersetzung nähen lassen. Auf eine örtliche Betäubung verzichtet er mit der Begründung, Schmerzen seien virtuell. Das hab ich mir verinnerlicht, hab mich selbst in einen meditativen Zustand versetzt, geredet wurde in den Sitzungen kaum bis gar nicht. Es fiel mir manchmal schwer, wieder aus diesem Zustand herauszukommen. Der Schmerz, den ich unmöglich allgemeinverständlich relativieren könnte (was ist mehr oder weniger, was ist sehr was weniger schmerzhaft, nach welcher Skala), ist zu einem immens wichtigen Teil des Aktes als solchen geworden. Der Schmerz hat uns auch verbunden, die Stecherin und mich, das war mental manchmal schon bemerkenswert.
Der Schmerz hatte aber einen ganz erstaunlichen Effekt, den ich so vorher noch nie erlebt habe. Der Schmerz ist relativ konstant und kontinuierlich, und hat dabei und dadurch eine unglaublich fokussierende mentale Wirkung, die gesamte Situation besteht nur noch aus der Liege, auf der ich lag, dem Summen der Tätowiermaschine, und dem Empfinden beim Eindringen der Nadel in die Haut. Dieses Empfinden hat mich vollständig ausgefüllt, ich war ansonsten mental leer. Das ging soweit, dass ich manchmal Probleme hatte, aus diesem Zustand wieder herauszukommen, zurück in die „normale“ Welt. Es gibt wohl auch Tätowierer, die mit örtlicher Betäubung arbeiten, mit Salben oder was auch immer. Für mich wäre das ein Frevel, für mich ist die Empfindung beim Stechen vitaler Bestandteil des Aktes an sich, die Manifestation des Überganges des Motives aus der virtuellen Vorstellung in die reale Welt in meinem Körper. Unverzichtbar für mich.
Noch eine andere Erkenntnis stellte sich ein. Mein Körper, besser meine Haut, ist offensichtlich sehr unterschiedlich empfindsam. Die Motive sind mehr oder weniger symmetrisch, und doch hat sich gezeigt, dass keine Körperseite wie die gegenüberliegende ist, mit sehr ausgeprägten Unterschieden.
Ich gehe nicht so weit wie Patrick Swayze und behaupte, Schmerzen seien nicht real. Und ob HSPs schmerzempfindlicher seien als nicht-HSPs, das lass ich dahingestellt sein. Was ich aber sicher sagen kann aus eigener Erfahrung und dem Umgang mit diesen Empfindungen, das ist, dass es enorm auf den Umgang mit dieser Empfindung ankommt. Und das ist für mich insgesamt das Thema bei HS, das mich beschäftigt. Nicht das Phänomen als solches ist das Problem (wenn ich exemplarisch die negativ kontierte Seite heranziehe), sondern die Deklaration zum Problem. Die Wertung macht das eigentliche, nicht die bloße Erscheinung. Es ist eine Frage des Umgangs, oder de Frage konkreter formuliert, was mache ich aus der Erscheinung oder dem Phänomen. Beim Phänomen haben wir meist deutlich weniger Freiheitsgrade (beim Tätowieren dringt die Nadel in die Haut ein, wir können uns einzig sezieren lassen, entweder oder), wie wir damit umgehen, das obliegt uns selbst, wenn wir antrainierte Reaktionen erst mal bewusst gemacht haben und uns überlegen, ob wir Alternativen zu diesen Reaktionsmustern haben. Und dann braucht es den Mut, sich in die Situation selbst zu begeben und auszuprobieren, wie (die Frage nach dem „Ob“ muss man vorher geklärt und beantwortet haben!) wir alternativ damit umgehen können. Mit einer ordentlichen Potion Selbstreflexion kann man daran wachsen.
Tätowieren ist womöglich ein schon recht anspruchsvolles Beispiel (aber danach wurde hier ja gefragt), es geht aber auch mit anderen Lebenssituationen, die manche HSP als belastend empfindet. Und es geht dabei um alternative Reaktionen und unsere Bewertungsmuster, nicht ums Aushalten (das ist nur im Kontext Tätowieren interessant).