Sturm
"Es war ein heftiger Sturm, ein langer Sturm, er
ging über Monate, ja sogar Jahre. Während dieser
turbulenten und entbehrungsreichen Zeit, blieben
viele geliebte Menschen auf See, segelten von mir
weg, bis weit hinter dem Horizont, manche las ich
auf, zeitweise segelte ich nicht allein, doch den
Kurs konnte ich lange Zeit nicht beeinflussen.
Ich strauchelte in dieser Zeit, hielt das Ruder
des Schiffes über Tage krampfhaft fest, als sei
es mein einziger Anker auf einer See, die sich
gegen mich und meine Vasallen verschwor, die ich
nicht mehr verstand. Ich strauchelte oft, taumelte,
zweifelte an meiner Kraft, doch ließ ich nie los,
ging nie über Board, wer weiß, welche Mächte mir
beisteistanden, aber ich bin ihnen dankbar.
Ich bin der Kapitän dieses Schiffes und ich bin
daran gebunden, ich gehe mit ihm unter, werde es
nie verlassen.
Jetzt, nach langer, langer Dunkelheit, herrscht auf
einmal, urplötzlich Flaute, der Himmel klarte auf.
Ich kann für einen Moment unverkrampft aufatmen,
das Ruder zaghaft loslassen und mache mir ein Bild
über die Schäden. Die alte Fregatte hat ganz schön
was abbekommen, aber sie ist noch seetauglich. Ich
lächle leicht, als ich salzige Luft atme und die
grelle Sonne durch kleine Augenschlitze strömen
lasse. Meine Vorräte neigen sich dem Ende, der letzte
Tropfen Rum ging längst mit meinen Träumen und Hoff-
nungen verloren. Ich bin jetzt ein anderer. Als noch
junger Mensch hinein und als alternder hinaus.
Die Shantys dieser Äonen hallen in meinem Kopf, bis
ich die Melodie finde, die mir kurz als Schwermut
wie ein scharfer, galleköchelnder Branntwein die
Kehle runterwandert, meine Mitte erwärmt und die
ich dann ziehen lasse, wie den letzten Blick über
die stille See und ihrem versöhnlich stimmenden
Horizont. Während ich langsam den Anker runter-
lasse, ein paar Angelschnüre präpariere und mich
für eine ruhsame Nacht rüste, denke ich an die
Menschen, die mir während dieser wilden Jahre
begegneten und blicke mich um. Weit und breit nur
Wasser. Manche sind auf ewig fort, vielen werden
meinen Weg nicht mehr kreuzen. Die meisten sind
noch da, irgendwo da draußen, auch wenn ich sie
grad nicht sehen kann. Die Sonne taucht ihr Licht
in den Ozean, ein Farbenspiel zieht wie Wolken im
Zeitraffer an mir vorüber, bis die Sterne den
einsamen Schleier unserer Atmosphäre durchbrechen.
Brannte vor einem Moment noch das grelle Feuerspiel
des Lebensspenders in meinen Falten, schmiegt sich
nun dessen Wiederhall durch unseren nächtlichen
Begleiter an mich. Eine sanfte Brise kühlt die
Szenerie herunter, leichter Wind sorgt für wohligen
Wellengang. "Wo ich jetzt grad bin", höre ich mich
sagen, "spielt keine Rolle". Ich weiß noch nicht,
in welche Richtung ich nun segeln soll, ja, will.
Eine etwas größere Welle reißt mich aus meinen
Gedanken, zurück aufs Meer. Ich blicke nur leicht
erschöpft in Richtung Koje, atme noch einen Augen-
blick alles ein, was ich mit meinen Lungen fassen
kann und setze die Segel. Während das Ruder wieder
in die Hand nehme und den Horizont ansteuere,
donnert kurz, wie ein Nebelhorn, der Schrei einer
einsamen Möwe durch die sternenklare Nacht. "