Kreatur - das Licht
Für mich hat es sich als praktikabel heraussgestellt, Dinge, dir mir widerfahren und die ich nicht verstehe, in Geschichten zu verschlüsseln. Daraus ist irgendwann ein Hobby geworden. Im Moment schreibe ich an einer Geschichte, die ein weiterer Teil meiner "Kreatur-Reihe" werden soll. Es ist ist nur ein Entwurf (die fertige Geschichte wäre zu lang für diesen Thread).
Ich stelle sie hier ein, weil ich mir viele Beiträge hier durchgelesen habe und weiß, dass Einige sie verstehen werden.
Kreatur - das Licht
Der alte Priester beobachtete aufmerksam, wie der Novize versuchte, die große Wunde im Unterarm des Herzogs zu verbinden. Blut tropfte auf die Steine des Fußbodens und tiefe Falten furchten seine hohe Stirn, als er den unterdrückten Schmerz in den Augen des Mannes am Tisch sah.
»Nein, Theodoran kann keine Gedanken lesen, zumindest nicht so, wie Ihr es Euch vorstellt.«
Vater Donatus stand auf und ging zur gegenüberliegenden Wand des Raumes und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, als bräuchte er für die folgenden Worte eine Stütze. »Dietrich, als Ihr jung wahrt und bei Eurem Weib gelegen habt, wachtet Ihr doch sicher manchmal des Nachts auf, während sie noch schlief und habt sie in heißer Liebe angesehen, oder?«
Der Herzog von Nres musste nicht lange überlegen. „In den ersten Jahren fast jede Nacht. Ich musste mich immer wieder vergewissern, dass diese wunderschöne Frau tatsächlich ihr Lager mit mir teilte und mein angetrautes Eheweib war.“
»Ja, das kann ich gut verstehen. Doch was passierte, wenn Ihr sie anschautet?«
»Nun, nichts. Oder wollt Ihr wirklich genaue Einzelheiten aus dem Leben Jungverliebter? Habt ihr das in Eurem Alter noch nötig und ist das jetzt der passende Moment dafür?«
Der Herzog missverstand, was Vater Donatus ihm entlocken wollte und das musste auf seinem Gesicht ziemlich deutlich zu lesen sein.
»Nun, nun, ich möchte Euch nicht beschämen. Trotzdem denkt bitte nach, was, vielleicht nicht immer, mit Eurer Frau geschah, wenn Ihr sie im Schlaf angeschaut habt. Es ist wichtig.« Die Stimme des alten Priesters war leise, aber nachdrücklich.
Der Herzog zögerte, aber nur, bis er dem alten Mann in die Augen geschaut hatte.
»Wenn ich es recht bedenke, so passierte es schon, dass sie unruhig wurde, sich im Bett drehte und manchmal wachte sie sogar auf. Meintet Ihr das?«
Vater Donatus nickte versonnen. »Bei uns sind ähnliche Dinge aufgetreten. Wenn wir an der Entzifferung alter Schriftrollen arbeiten oder intensiv nachdenken, passiert es oft, dass wir uns gegenseitig stören. Seit dem wir das herausgefunden haben, arbeitet jeder von uns alleine in einem Raum und wir erzielen schnellere und bessere Ergebnisse.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass wir die Gedanken anderer empfangen können?“ Vater Donatus schüttelte den Kopf. „Nein, sicher nicht. Aber wenn wir intensiv denken, entströmt irgendetwas davon unserem Kopf, und das können andere wahrnehmen. Vielleicht nicht bewusst und nicht in der Hektik des Alltags, wo jede Menge Eindrücke Augen und Ohren beschäftigen. Aber in der Stille der Nacht, wenn nichts uns ablenkt mag es sein, dass ein verborgener Sinn in uns Dinge empfängt, die ein anderer aussendet.
Denkt an Hunde und Katzen, wie schnell sie auf Geschehnisse reagieren können. Ein treuer Hund kann seinen Herren vor einer Gefahr warnen, Minuten, bevor sie sichtbar wird.«
Der Herzog von Nres schüttelte den Kopf. »Was sollte das mit der Fähigkeit von Theodoran zu tun haben, jeden Angriff auf ihn bei Nacht und auch am Tage schon im Voraus zu erkennen?«
»Jetzt stellt Euch einmal vor, dieser verborgene Sinn, den alle Menschen und noch schärfer alle Tiere haben, würde bei einem Menschen durch eine Laune der Natur hundert- oder tausendmal stärker sein, wozu wäre der wohl in der Lage?
Stellt Euch vor, die Menschen würden diesen Sinn nicht als Hexenwerk und Zauberei verdammen und wären bereit, auf ihn zu hören. Theodoran mag es getan haben. Würde er nicht wissen, dass eine Waffe auf ihn gerichtet wird? Je schärfer der Sinn wäre, je weiter entfernt könnte diese Waffe sein, er würde es trotzdem wissen.«
Der Herzog von Nres blickte sinnend in die Flammen des leise knisternden Kaminfeuers. »„Es ist fünf Jahre her, meine Frau sollte in einer Woche niederkommen und ich war mit meinen Mannen zwei Tagesritte entfernt. Mitten in der Nacht wachte ich auf, hatte Schweiß auf der Stirn und fühlte mich furchtbar unruhig. Mein Leibarzt wurde gerufen, aber er konnte nichts feststellen außer einer allgemeinen Unruhe.«
Der alte Priester blickte ihn nur leise lächelnd an, als wüsste er, was ihm der Herzog jetzt erzählen wollte.
»Als wir drei Tage später zu Hause ankamen, hielt meine Frau einen Sohn in den Armen – er war eine Woche zu früh, genau vor drei Tagen um Mitternacht geboren worden…«
(C) RHCSo 2013